Die Muse tanzt im Schloss

Seit 25 Jahren finden die Musikfestspiele in Mecklenburg-Vorpommern statt. Von Gerhard Müller

  • Gerhard Müller
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern sind ein Kind der Wende. 1990 blickte man misstrauisch auf den Hamburger Kinderarzt Matthias von Hülsen, der sie nach holsteinischem Vorbild ins Leben rief. Sogar ein Gegenfestival gründete man, den Mecklenburger Musiksommer. Beides ging nicht, auf die politische folgte die festivalische Vereinigung, und im Norden, der allerdings nie kulturlos war, blühte ein neues Musikfest auf. Prominenz fehlte nie. Yehudi Menuhin, Anne-Sophie Mutter, Martha Argerich und Igor Levit, selbst die Wiener und Berliner Philharmoniker kamen hierher. Vor allem ist es ein Festival der Jungen. Ihnen ist in dem Format »Junge Elite« die erste Reihe freigehalten. Neue Namen finden sich, wenig später sind sie berühmt. 124 Veranstaltungen bietet das diesjährige Programm noch bis zum19. September, über 60 Spielorte sind ausgewiesen; die Musen spielen, singen, tanzen in Schlössern und Scheunen, auf Wiesen und in Kirchen und Klöstern. Nur das Theater Schwerin spielt nicht mit, aber es spielt selbst und veranstaltet sein eigenes »Schlossfestival«. Diesmal mit »La Traviata«. Irgendwie gehört es damit dann doch dazu.

Mittwoch, 1. Juli Schwerin

Ein rotes Gestell rahmt das Schweriner Schloss, das die Kulisse abgibt zu Verdis »Traviata«: eine Salonoper ohne Salon. Über den Zinnen schwebt der Mond so stille und trägt die Latschen in der Hand. Doch Verdis Musik klingt und singt durch die laue Sommernacht. Das macht Daniel Huppert, der junge GMD der Schweriner Staatskapelle. Und Verdi-Stimmen finden sich in Schwerin ebenso - die Mexikanerin Gabriela Herrera als Violetta, Carsten Wittmoser als Germont und der Rumäne Adorján Pataki als Alfredo, leicht indisponiert leider, eine Folge der neulichen Schafskälte. Trotz alledem - wer sich Verona nicht leistet, fährt nach Schwerin. Das beklemmende Schluss-Duett »Ach lasst uns fliehen aus diesen Mauern« geriet zu einer Wunschkonzerteinlage. Design statt Dramatik! Ist das das Schicksal der heutigen Oper?

Aber andererseits: Sollen wir einen Zustand beklagen, nach dem wir uns vielleicht bald wieder zurücksehnen? Der größte Dramatiker des Nordens, der Schweriner Kulturminister Brodkorb, hat in Rostock schon die Oper ohne Sänger und Musiker vorgeschlagen, was allerdings an der Bockbeinigkeit des Intendanten Sewan Latchinian bisher scheiterte. Auch Schwerin erhält in zwei Jahren einen neuen Intendanten, er eilt aus der weltberühmten Theaterstadt Nordhausen herbei und entlässt als erstes das Ballett, andere folgen. So reifen ministerielle Träume. Als nächstes Open Air für 2016 ist »Aida« angekündigt. Aber wie? Ohne Sänger und Musiker und mit zu Mücken sublimierten Elefanten?

Mittwoch, 8. Juli Hasenwinkel

Den Hasenwinkel findet man unfern vom Nordende des Schweriner Sees, ein veritables Schloss mit imposantem Park inmitten eines unscheinbaren Dorfs. Es spielte das »Quatuor Ebén« aus Paris, das diesjährige »Ensemble in Residence« der Festspiele. Es wurde ein Gedenkkonzert für Friedemann Weigle, den zwei Tage zuvor unerwartet verstorbenen Bratscher des Berliner Artemis-Quartetts. Ihm zu Ehren spielten die vier jungen Musiker aus Paris zusammen mit Miklos Perenyi, dem großen ungarischen Cellisten, das C-Dur-Quintett von Franz Schubert. Eine ergreifendere Totenfeier wurde kaum je einem Musiker zuteil. Noch nie hörte ich es so dramatisch und modern; keine Ländler-Melancholie, stattdessen eine stürmische, wilde Tragödie, als ob Schubert eine Bühnenmusik zur »Antigone« komponiert hätte. Der Abend hatte mit der »Arpeggione-Sonate« begonnen, die der ungarische Cellist Miklós Perényi mit traumhaft schönem, elegischem Ton vortrug. Es folgte die große f-Moll-Fantasie, die zwei stupende Klavierschlägerinnen, die schwarzäugige Inderin Shani Dilka und die schlanke Japanerin Akiko Yamamoti, in die Tasten hämmerten. Das Quintett bildete jedoch den Höhepunkt dieser »Schubertiade«.

Donnerstag, 9. Juli Heiligendamm

Im Ballsaal des Grandhotels von Heiligendamm, in das Angela Merkel einst die Großen der Welt geladen hatte, sah man Damen in großer Toilette, Herren mit weißen Smokings, draußen stürmte es, die Wellen der Ostsee brandeten, doch drinnen herrschte die distinguierte Eleganz des Salons, als würde immer noch »Traviata« gespielt. »Paris 1870 - 1970« hieß das Programm. Das Ebén-Quartett zerlegte sich an seinem zweiten Abend in seine männlichen Teilmusiker, die solistisch agierten, sekundiert von zwei Sängerinnen und zwei Pianistinnen. Sie boten Chansons und Arien von Gabriel Fauré, Jules Massenet, Leo Delibes, Chansons von Barbara und Léo Ferré in dezenten kammermusikalischen Bearbeitungen. Man fühlte sich in die Zeiten der seligen Prinzessin Polignac versetzt, die einst mit Debussy, Ravel, Picasso, Matisse, Strawinsky, Prokofjew, Weill und anderen Bohémiens die Pariser Salonkunst zu Höhen führte, von denen der Abend in Heiligendamm wenigstens eine fromme Ahnung verhieß.

Auch Mecklenburg hat seine Bohémiens, nur fehlt ihnen eine finanzkräftige Prinzessin Polignac. Einer von ihnen ist der Maler Wilfried Hohmuth in Bad Doberan, ein weißhaariger, schlanker Siebziger, den das Leben gezeichnet hat so wie er dasselbe auch - ein gegenseitiges Nehmen und Geben. In seinem Atelier finden sich Hunderte von Gouachen, die einige wenige Motive variieren - das Boot am Strand, die Zirkusarena, Köpfe. Aus einem Panorama von Klecksen treten sie in grotesken Verformungen hervor. Es ist Malerei auf den zweiten Blick, Karnevalismus, Magie der Farben und Formen. Künstler wie er stehen nicht im Festivalprogramm, doch beinahe überall auf dem flachen Lande findet man solche Meister in ihren bescheidenen Ateliers. Einst holten sie die LPGs in die Dörfer, gaben ihnen Wohnung und Atelier (oft kostenlos) und waren stolz auf »ihre Künstler«. Heute sind sie halb oder ganz vergessen. Das Feuilleton ignoriert sie, die aktuelle Mode-Welt der Kunst, die den geschickten Fälscher Beltracchi zu ihrem Favoriten erkoren hat, kennt sie nicht. Aber wer erfahren will, wie man in Mecklenburg fühlt und denkt, die Welt sieht und sich selbst darin, der muss sie aufsuchen, mit ihnen Kaffee trinken und ihre Bilder betrachten. Eines Tages tauchen sie wieder auf, und erstaunt wird man fragen: Das hat es gegeben?

Freitag, 10. Juli Zarrentin

Nach der Schubertiade und dem französischen Abend servierte das Ebén-Quartett als drittes ein ungarisch-böhmisches Mischgericht, diesmal in der Klosterkirche von Zarrentin. Das war einmal Grenze, abgelegen, abgeschottet, kein Ort der Musen. Ob die Künstler-Agentur der DDR dorthin jemals einen Künstler entsandte, weiß ich nicht. Doch jetzt in der Kirche gibt es Kodály, Bartók, Brahms, Dvořák. In dem spartanischen Zisterzienserbau erdröhnen die »Ungarischen Tänze« und als Kontrast dazu die Violinduette von Bartók und das Duo für Violine und Cello von Zoltán Kodály. Dvořáks zweites Klavierquintett krönte das Programm, das ist eine ganze Sinfonie für fünf Instrumente. Wo man einst vorbeifuhr und die Zustände verfluchte, verweilen nun die Enthusiasten aus Hamburg und Schwerin, Lübeck und Wismar, um das Ebén-Quartett zu hören oder Kit Armstrong, das neue pianistische Wunderkind, das mit Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen brillierte.

Mittwoch, 22. Juli

Nicht alles ist gut im Lande Mecklenburg. In der »Schweriner Volkszeitung« liest man über Rostock: »OB sauer über Theaterleitung - Sparpapier des Volkstheaters sorgt für Unruhe«. Auf der Grundlage der verlangten Einsparungen von 4,6 Millionen Euro bis 2020 errechnete die Theaterleitung, dass dafür 90 Stellen gestrichen und die Sparten Musiktheater und Tanztheater geschlossen werden müssten. Es bliebe ein Schauspielensemble mit sieben Stellen, das nur noch sechsmal im Monat spielt. OB Methling bezeichnete das Papier als »eine einzige Bankrotterklärung« und »größtmögliche Provokation«. Soviel Selbstkritik ist ungewöhnlich, denn die Vorgaben stammen aus dem Hause Methling. Vielleicht wandert die mecklenburgische Kultur nun nach Zarrentin oder Hasenwinkel aus, oder nach Landsdorf bei Tribsees, wo in einem dreitägigen »Pavillon Zukunft« (einem Projekt der Hamburger Körber-Stiftung) das Musikleben des morgigen Tages erforscht werden soll.

Freitag, 24. Juli Landsdorf bei Tribsees

Der Gutshof Landsdorf hatte einst eine Zukunft als Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Jetzt gehört er der Familie Schäfer aus Düsseldorf. Doktor Schäfer ist ein jovialer beleibter Herr, Rechtsanwalt mit profundem Kunstverständnis und mäzenatischen Ambitionen. Sein Gutshof ist eine blühende Landschaft, in der sich Rosen und Funkien, Orchideen und Hortensien in Hülle und Fülle finden. Auf der Wiese spielt die »junge norddeutsche philharmonie« eine »Meeresbrandung« von Sven Daigger.

Draußen: Der »Pavillon Zukunft« in einem umgebauten Kornspeicher. In fünf »Salons visionaires« diskutierten Kulturwissenschaftler, Architekten, Musiker und Manager über die Musik und die Konzertsäle der Zukunft. Groß müssten die Konzertsäle der Zukunft sein, zugleich aber klein. Das Publikum werde älter, zugleich aber jünger. Die Informationsdichte der neuen Musik nimmt zu und ab, die Orchester spielen ab und zu, weshalb die alten Konzertsäle bald nicht mehr gebraucht werden und stattdessen unbrauchbare neu gebaut werden. Karsten Witt, einst Direktor der Wiener Philharmoniker, Begründer des Frankfurter »ensembles modern« und ein Enthusiast der Moderne, erläuterte das am Modell der Hamburger Elbphilharmonie: Außen supermodern und superteuer, innen das traditionale Orchester-Podium für klassisches Sinfonieorchester, ungeeignet für moderne Musik. Man riefe nach dem neuen Publikum und übersehe, dass es längst erschienen ist.

In der Zukunftsmusik von Landsdorf war noch einmal alles zusammen präsent - von der Klassik bis zum Rock-Konzert. Wann hätte man es je für möglich gehalten, dass zwischen Dorfteichen, grünen Wiesen und wogenden Roggenfeldern in einem vergangenen Kornspeicher die erste Klaviersonate von Pierre Boulez und das Klavierstück X von Karlheinz Stockhausen erklingen könnten, faszinierend dargeboten von dem französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard.

Den Gesang der Zukunft präsentierte die Norwegerin Tora Augestad. Sie kam im Trio mit dem Akkordeonisten Stig Carstensen und dem Geiger Ola Kvernberg; ihr Metier ist das Chanson - George Gershwin, Kurt Weill. Den »September-Song« singt der ganze Saal mit. Sie singt auch Madrigale von John Dowland und die »Winterreise« von Franz Schubert. Das Kunstlied als Chanson, begleitet von Akkordeon und Geige, wie auf dem Dorfe? Aber da sind wir ja. In manchem Auge glitzert verstohlen eine Träne, so schön ist es. Zu anderer Stunde betritt Georg Breinschmid das Podium, einst Solo-Kontrabassist der Wiener Philharmoniker und jetzt weltbekannter Jazz-Mann. Er kommt mit drei total verrückten Jazzern - dem Bulgaren Wladimir Karparow (Saxophon), dem Russen Arkadi Shilkoper (Horn) und wieder Stig Carstensen. Der Saal steht Kopf, die Post geht ab. Breinschmid über den bulgarischen Jazz: »Die haben ganz schwierige Rhythmen, 15/16 und so. Wie kommt das eigentlich?« Der Bulgare antwortet: »Es waren zuerst 16/16. Aber dann kam die Krise.« Zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt es nur einen winzigen Augenblick, sagt er weiter. Man nennt ihn Leben. So gibt ein russisches Sprichwort Auskunft über die große Zukunftsfrage, die die Wissenschaftler nicht lösen konnten. Breinschmid fügt trocken hinzu. »Ich kenne nur einen russischen Satz: Griby ostalisj.« O je, das sagt Katerina Ismailowa in Schostakowitschs Oper, wenn sie dem verhassten Schwiegervater das vergiftete Gericht reicht: »Es sind noch Pilze da!« Das ist der Gerichtstag, wo das Alte abtritt und die Zukunft auftritt. Er ist immer dramatisch.

Auch der Posaunist Mike Svoboda, einst ein Partner von Stockhausen, gibt noch ein Improvisationskonzert, und das »Brandt-Brauer Frick Ensemble« beschießt am Sonntag mit seinem Berliner Techno-Projekt - »elektronische Musik vereint mit klassischen Instrumenten« - die musikalische Forschungsreise in die Zukunft, die in der Vergangenheit begann und am heutigen Tag endete. Der Kreis ist ausgeschritten. Drei Tage unwirklich traumhafte Klänge, eine Musik beschwörend, die noch nicht ist, obwohl wir sie doch gerade gehört haben. Für diese drei Tage Landsdorf bei Tribsees schenke ich gern die historischen Festspiele von Bayreuth und Salzburg her, jedenfalls für eine Saison.

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