Ein Fuß im Elfenbeinturm, der andre in der Politik

Rudolf Hickel über die existenzielle Abhängigkeit von Berufspolitikern und den Sinn wissenschaftlicher Beratung

Wenn Bill Gates zu ihm bei einer Talk show sagt »I like deregulation and Im a capitalist and you like regulation and you are a communist«, amüsiert das Professor Rudolf Hickel. Wenn Hans-Olaf Henkel schon »Falsch« schreit, bevor der Bremer Wirtschaftswissenschaftler überhaupt einen Satz formuliert hat, amüsiert ihn das weniger. Dennoch wird der 59-Jährige nicht müde, sich einzumischen. Das aktive Mitglied der Memorandum-Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik gehört künftig auch zu den Autoren der ab Januar wöchentlich jeweils freitags erscheinenden ND-Wirtschaftskolumne.

ND: Vor ein paar Jahren hat Gregor Gysi auf einer öffentlichen Veranstaltung in Magdeburg gesagt, die PDS sähe die wirtschaftlichen Angelegenheiten Sachsen-Anhalts bei einem Wirtschaftsminister Hickel besser aufgehoben als beim Wirtschaftsminister Schucht. Sehen wir uns demnächst in Berlin wieder?
Ich finde es ganz wichtig, dass im künftigen rot-roten, oder besser rosa-roten Senat von Berlin Leute arbeiten, die die Situation vor Ort sehr gut kennen. Ein Importprodukt aus Bremen wäre da sicher nicht so optimal.

ND: Das Berliner Pflaster ist Ihnen ja nicht ganz unbekannt. Vor dreieinhalb Jahren forderten Sie auf dem Alex vor Tausenden Demonstranten - sehr engagiert und sichtlich bewegt - einen Politikwechsel ein. Enttäuscht?
Sehr. Das ist eine meiner größten Lebensenttäuschungen. Nach 16 Jahren Kohl-Regierung, die eine neoliberale Politik der Umverteilung betrieb und zur Vergiftung des intellektuellen Klimas beitrug, hatte ich wie viele eine große Sehnsucht - nicht nur nach Regierungs-, sondern nach einem Politikwechsel. Und Hoffnung darauf, wenigstens ein Stück weit - mehr ist ja nicht drin - das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie zurückzugewinnen.

ND: Und wurde etwas gewonnen?
Den Koalitionsvertrag fand ich, auch wenn da schon einige aufgestöhnt haben, in Ordnung - vor allem die große Zieltriade: Arbeit, Umwelt, soziale Gerechtigkeit. Wie auch die völlige Umorientierung in der Steuerpolitik hin zu mehr gerechter Lastenverteilung. Misst man heute die Regierungspolitik am Koalitionsvertrag, muss man feststellen, dass beides miteinander nichts mehr zu tun hat. Die rot-grüne Regierung hat die Basis, auf der sie gewählt wurde, längst hinter sich gelassen.

ND: Wann war für Sie die Zäsur?
Es gab mehrere. Das eine war der Rücktritt von Lafontaine, der mehr an politischer Veränderung implizierte, als er vielleicht selbst geglaubt hat. Das zweite war das Debakel um das berühmte Steuersenkungsgesetz. Nachdem - wie im Wahlkampf 98 versprochen - deutliche Belastungen der Versicherungs- und Atomwirtschaft zunächst stattfanden, weil Möglichkeiten der Rückstellungen eingeschränkt wurden, gab es später Absprachen zwischen dem Kanzler und der Versicherungs- und Atomlobby, die im Dezember 2000 zu Steuergeschenken als »Wiedergutmachung« führten, indem Veräußerungsgewinne nicht mehr versteuert werden brauchen. Die dritte Zäsur ist die Arbeitsmarktpolitik. Das Ziel waren 3 Millionen registrierte Arbeitslose, dann 3,5 Millionen - und auf dem Nürnberger Parteitag der SPD wurde das Ziel endgültig aufgegeben. Es findet auch unter Rot-Grün eine Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt statt - und nicht die versprochene aktive Beschäftigungspolitik.

ND: Kanzler, Arbeits- und Finanzminister verweisen auf Sachzwänge.
Das tun Politiker stets, wenn sie im Widerspruch zu dem handeln, was sie ursprünglich angekündigt haben.

ND: Aber kann man denn ausblenden, dass beispielsweise diese enorme Gesamtverschuldung kein Zustand ist?
Es gibt keinen Zweifel, dass man die Schulden langfristig abbauen muss. Aber ehrlich gesagt, kann ich diese Vererbungsparolen, mit denen die Eichelsche Sparpolitik begründet wird und die bis tief in die PDS ihre Anhänger hat, nicht mehr hören. Wir hinterlassen der nachfolgenden Generation eben nicht nur Erblasten in Form von Zinsen, sondern vererben ihr auch das Vermögen. Und wenn wir uns heute neu verschulden, um mit vernünftigen ökologischen Infrastrukturmaßnahmen den Nachkommen eine nachhaltige Zukunft zu vererben, soll die künftige Generation in dem Ausmaß, in dem sie davon profitiert, auch an der Finanzierung beteiligt werden. Das kann man nur mit dem Instrument der Staatsverschuldung. Aber der Gedanke, Nutzen und Lasten auf die nächste Generation zu vererben, ist in Deutschland derzeit rational nicht diskutierbar.

ND: Es gibt inzwischen noch ganz andere als nur wirtschafts- oder finanzpolitische Gründe, von Rot-Grün enttäuscht zu sein - die neu erwachten deutschen Kriegsgelüste. Günter Gaus hat die SPD verlassen, Elmar Altvater den Grünen den Rücken gekehrt. Sind Sie auch zu der Einsicht gelangt, dass Parteinahme von Intellektuellen irgendwann zum Problem wird?
Wenn ich Mitglied der SPD wäre, wäre ich nach der Entscheidung für eine deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan ausgetreten. Wenn ich Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen wäre, wäre ich ebenfalls ausgetreten. In gewisser Weise ziehen damit Intellektuelle auch die Konsequenz daraus, dass sie nichts mehr zu sagen haben. Wenn man sich die Grünen anschaut - Intellektuelle, linke Kritiker und Förderer haben da keine Stimme mehr. Und bei der SPD haben wir den dramatischen Beweis mit dem Nürnberger Parteitag. In einem Kanzlerverein, bei dem es nur noch um Pragmatismus und Politikvermarktung nicht aber um Inhalte geht, in dem die Politik der ruhigen Hand nur die zarte Umschreibung für eine Politik des Stillstands ist, ist kein Platz für Bewahrer sozialdemokratischer Tradition aus der Arbeiterbewegung, die auf Veränderung der Gesellschaft gerichtet war. Wir diskutieren, ob die CDU noch das C im Namen führen darf. Ich frage inzwischen, ob bei der SPD das S noch Berechtigung hat.

ND: Sie sind weder SPD- noch Grünen-Mitglied. Aber Sie haben diese Parteien lange Jahre beraten. Tun das inzwischen auch bei der PDS. Macht dieses Wanderprediger-Dasein wirklich Sinn?
Erfolge sieht man selten, meistens habe ich immer wieder allzu große Erwartungen. Dennoch kann ich nicht aufhören, wenigstens zu versuchen, das regierungsamtlich beanspruchte Monopol auf Weisheit und Wahrheit zu durchbrechen. Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man Hofnarr oder Mahner sein will. Und ich habe mich für Letzteres entschieden. Übrigens haben Sie bei der Aufzählung meines Wanderprediger-Tuns die Gewerkschaften vergessen. Die halte ich nach wie vor für eine wichtige politische Säule für eine andere Politik.

ND: Bei Grünen und SPD sind Sie enttäuscht über das Echo auf intellektuelle Kritik von links. Wie ists bei der PDS?
Ich rede gern mit klugen Köpfen in der PDS, beispielsweise in Holters Denkwerkstatt in Mecklenburg-Vorpommern. Ich tue es auch, weil mich schon mitunter die Sorge umtreibt, dass die Politiker in dieser Partei durch den Alltag so abgeschliffen werden, dass sie Profil verlieren. Wenn beispielsweise die Managementfehler in Holters Ministerium - auch durch ihn persönlich - dazu führen, dass einer aus der CSU sagen kann, lasst die PDS ruhig mitregieren, weil nur so die Entzauberung der Partei stattfindet und alle sehen, die sind auch nicht besser, ärgert mich das schon. Es ist eine wichtige Verantwortung für PDS-Politiker, wo auch immer, in der praktizierten Politik transparent zu sein und ethisch begründbar zu handeln.

ND: Hört der Schweriner Arbeitsminister auf Ratschläge aus der Denkwerkstatt?
Also erstens finde ich seine Idee der Denkwerkstatt richtig gut, weil das schlichtweg ein Ort ist, in dem tatsächlich nachgedacht wird. Das kommt in der Politik ansonsten selten vor. Inwieweit das, was wir in diesem sehr unterschiedlich zusammengesetzten Gremium erörtern - Unternehmer, Bankenvertreter, Wissenschaftler, Politiker - in praktische Politik umgesetzt werden kann, da habe ich gelegentlich meine Zweifel. Sinn der Übung ist es aber, dass strategisch etwas rauskommt, was man anwenden kann.

ND: In Sachen Arbeitsmarkt-Politik steht aber Mecklenburg-Vorpommern auch nicht besser da als andere Bundesländer.
Stimmt. Wenngleich: In Sachen öffentlicher Beschäftigungssektor hat Holter schon etwas mehr erreicht, als andernorts. Und überdies kann ein Landesminister nicht die Welt bewegen. Er kann höchstens ein paar Akzente setzen.

ND: Das ist genau die Argumentation auf allen Ebenen. Holter sieht seinen Spielraum durch den Bund begrenzt. Eichel seinen durch die EU, andere machen es sich noch einfacher und reden schlicht von den geschwundenen Steuerungsmöglichkeiten durch die Globalisierung.
Tja, und da muss man genau gucken. Es gibt für den Bundesfinanzminister erheblich größere Handlungsspielräume, als er sehen will. Und es gibt vor allem dringenden Steuerungsbedarf - durch eine koordinierte Politik in Europa, durch weltweite Regulierungen. Die Forderung von Attac nach der Tobin-Steuer ist letztlich doch nur ein Symbol - für die dringende Notwendigkeit einer grundlegenden Stabilisierung internationaler Finanzmärkte.

ND: Bei Attac machen Sie also auch mit?
Na klar. Ich bin begeistert von dieser Bewegung, und das nicht nur, weil bei Attac Deutschland ehemalige Studenten der Uni Bremen Verantwortung übernommen haben. Es zeigt sich - und das macht mich wieder optimistisch - dass es jenseits der Parteien ein Interesse an alternativer Politik gibt. Attac ist eine typische außerparlamentarische Bewegung. Was die Grünen, die inzwischen voll etabliert im Herrschaftsapparat der Bundesrepublik sind, mal waren. Diese Rolle in der Gesellschaft haben sie verspielt und so gesehen ist Attac ein Schlag ins Gesicht der Grünen.

ND: Dabei wollen die Grünen Attac vereinnahmen.
Erstens sind Parteien nicht in der Lage solche Strömungen zu integrieren. Und zweitens sollten sie das auch nicht tun. Die einzige Chance, dass sich Attac zur explosiven Kraft entwickelt und wirklich ein Stück weit die Gesellschaft zumindest in ihrer Ideologie verändert, ist - sie tun das außerhalb der Parteien. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin selbst ein Kind der APO.

ND: Lohnt es sich aus dem Bremer Elfenbeinturm zu steigen, um Politiker zu beraten, die dann doch machen, was sie wollen, Gewerkschaftern wieder Vertrauen in die eigene Kraft zu geben - oder auf die Straße in Berlin zu gehen, um nach einem Politikwechsel zu rufen?
Ich stehe immer doppelbeinig. Ich bleibe mit dem einen Bein im Elfenbeinturm. Den braucht man zur Besinnung - auch zur Distanz, um unbeeinflusst von politischen Strukturen und Interessenlagen über die Dinge nachzudenken. Mit dem anderen Bein stehe ich voll in der Politik. Und deshalb gehöre ich auch jetzt zu denen, die Rot-Grün kritisieren - um wieder für eine in Richtung auf Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Umwelt ausgerichtete Politik zu kämpfen. Wegen dieser Doppel-Bein-Strategie habe ich bislang alle Anfragen, vielleicht doch einmal in die Politik zu gehen, verneint - da würde mir das Bein im Elfenbeinturm abhanden kommen. Und das brauche ich ganz einfach.

ND: Aber vielleicht braucht die Politik auch endlich mal ein paar Leute vom Fach?
Das stimmt. Wir haben zu wenig engagierte Fachleute in der Politik, zu viele Politiker, die sich durch alle Instanzen hochgedient haben. Dennoch bin ich vorsichtig mit der Forderung nach den Fachleuten - beispielsweise aus der Wirtschaft. Es gibt keine Garantie dafür, dass ein guter Wirtschaftsmann auch guter Wirtschaftspolitiker wird. Nehmen wir nur den derzeitigen Bundeswirtschaftsminister - der kommt aus der Energiewirtschaft und niemand wird behaupten, dass er ein glückvoller, erfolgreicher Politiker ist.

ND: Also doch Berufspolitiker, die sich in ihren Parteien Instanz für Instanz und Jahr für Jahr nach oben profilieren?
Wir brauchen Leute, die Fachverstand haben - und existenziell nicht abhängig sind von dem System. Das kann man bei den Grünen exemplarisch besichtigen. Die ganze Konversion ihrer Politik hat auch damit zu tun, dass sich viele Grüne - personell und was die Einkommen betrifft - auf das System eingelassen haben. Mit Abhängigkeit von dem Politsystem reproduziert sich immer wieder neue Abhängigkeit - aber kaum fortschrittliche Politik.

ND: Keine Berufspolitiker, keine Leute aus der Wirtschaft. Was denn dann?
Leute aus den Universitäten sind geradezu prädestiniert zu sagen, wenn ich denn scheitern sollte oder aber das Projekt hoffentlich erfolgreich beendet ist, kann ich zurück in die Uni.

ND: Ein klassisches Eigentor für das Importprodukt aus Bremen, Herr Hickel!
Vielleicht.

Fragen: Gabriele OertelND: Vor ein paar Jahren hat Gregor Gysi auf einer öffentlichen Veranstaltung in Magdeburg gesagt, die PDS sähe die wirtschaftlichen Angelegenheiten Sachsen-Anhalts bei einem Wirtschaftsminister Hickel besser aufgehoben als beim Wirtschaftsminister Schucht. Sehen wir uns demnächst in Berlin wieder?
Ich finde es ganz wichtig, dass im künftigen rot-roten, oder besser rosa-roten Senat von Berlin Leute arbeiten, die die Situation vor Ort sehr gut kennen. Ein Importprodukt aus Bremen wäre da sicher nicht so optimal.

ND: Das Berliner Pflaster ist Ihnen ja nicht ganz unbekannt. Vor dreieinhalb Jahren forderten Sie auf dem Alex vor Tausenden Demonstranten - sehr engagiert und sichtlich bewegt - einen Politikwechsel ein. Enttäuscht?
Sehr. Das ist eine meiner größten Lebensenttäuschungen. Nach 16 Jahren Kohl-Regierung, die eine neoliberale Politik der Umverteilung betrieb und zur Vergiftung des intellektuellen Klimas beitrug, hatte ich wie viele eine große Sehnsucht - nicht nur nach Regierungs-, sondern nach einem Politikwechsel. Und Hoffnung darauf, wenigstens ein Stück weit - mehr ist ja nicht drin - das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie zurückzugewinnen.

ND: Und wurde etwas gewonnen?
Den Koalitionsvertrag fand ich, auch wenn da schon einige aufgestöhnt haben, in Ordnung - vor allem die große Zieltriade: Arbeit, Umwelt, soziale Gerechtigkeit. Wie auch die völlige Umorientierung in der Steuerpolitik hin zu mehr gerechter Lastenverteilung. Misst man heute die Regierungspolitik am Koalitionsvertrag, muss man feststellen, dass beides miteinander nichts mehr zu tun hat. Die rot-grüne Regierung hat die Basis, auf der sie gewählt wurde, längst hinter sich gelassen.

ND: Wann war für Sie die Zäsur?
Es gab mehrere. Das eine war der Rücktritt von Lafontaine, der mehr an politischer Veränderung implizierte, als er vielleicht selbst geglaubt hat. Das zweite war das Debakel um das berühmte Steuersenkungsgesetz. Nachdem - wie im Wahlkampf 98 versprochen - deutliche Belastungen der Versicherungs- und Atomwirtschaft zunächst stattfanden, weil Möglichkeiten der Rückstellungen eingeschränkt wurden, gab es später Absprachen zwischen dem Kanzler und der Versicherungs- und Atomlobby, die im Dezember 2000 zu Steuergeschenken als »Wiedergutmachung« führten, indem Veräußerungsgewinne nicht mehr versteuert werden brauchen. Die dritte Zäsur ist die Arbeitsmarktpolitik. Das Ziel waren 3 Millionen registrierte Arbeitslose, dann 3,5 Millionen - und auf dem Nürnberger Parteitag der SPD wurde das Ziel endgültig aufgegeben. Es findet auch unter Rot-Grün eine Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt statt - und nicht die versprochene aktive Beschäftigungspolitik.

ND: Kanzler, Arbeits- und Finanzminister verweisen auf Sachzwänge.
Das tun Politiker stets, wenn sie im Widerspruch zu dem handeln, was sie ursprünglich angekündigt haben.

ND: Aber kann man denn ausblenden, dass beispielsweise diese enorme Gesamtverschuldung kein Zustand ist?
Es gibt keinen Zweifel, dass man die Schulden langfristig abbauen muss. Aber ehrlich gesagt, kann ich diese Vererbungsparolen, mit denen die Eichelsche Sparpolitik begründet wird und die bis tief in die PDS ihre Anhänger hat, nicht mehr hören. Wir hinterlassen der nachfolgenden Generation eben nicht nur Erblasten in Form von Zinsen, sondern vererben ihr auch das Vermögen. Und wenn wir uns heute neu verschulden, um mit vernünftigen ökologischen Infrastrukturmaßnahmen den Nachkommen eine nachhaltige Zukunft zu vererben, soll die künftige Generation in dem Ausmaß, in dem sie davon profitiert, auch an der Finanzierung beteiligt werden. Das kann man nur mit dem Instrument der Staatsverschuldung. Aber der Gedanke, Nutzen und Lasten auf die nächste Generation zu vererben, ist in Deutschland derzeit rational nicht diskutierbar.

ND: Es gibt inzwischen noch ganz andere als nur wirtschafts- oder finanzpolitische Gründe, von Rot-Grün enttäuscht zu sein - die neu erwachten deutschen Kriegsgelüste. Günter Gaus hat die SPD verlassen, Elmar Altvater den Grünen den Rücken gekehrt. Sind Sie auch zu der Einsicht gelangt, dass Parteinahme von Intellektuellen irgendwann zum Problem wird?
Wenn ich Mitglied der SPD wäre, wäre ich nach der Entscheidung für eine deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan ausgetreten. Wenn ich Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen wäre, wäre ich ebenfalls ausgetreten. In gewisser Weise ziehen damit Intellektuelle auch die Konsequenz daraus, dass sie nichts mehr zu sagen haben. Wenn man sich die Grünen anschaut - Intellektuelle, linke Kritiker und Förderer haben da keine Stimme mehr. Und bei der SPD haben wir den dramatischen Beweis mit dem Nürnberger Parteitag. In einem Kanzlerverein, bei dem es nur noch um Pragmatismus und Politikvermarktung nicht aber um Inhalte geht, in dem die Politik der ruhigen Hand nur die zarte Umschreibung für eine Politik des Stillstands ist, ist kein Platz für Bewahrer sozialdemokratischer Tradition aus der Arbeiterbewegung, die auf Veränderung der Gesellschaft gerichtet war. Wir diskutieren, ob die CDU noch das C im Namen führen darf. Ich frage inzwischen, ob bei der SPD das S noch Berechtigung hat.

ND: Sie sind weder SPD- noch Grünen-Mitglied. Aber Sie haben diese Parteien lange Jahre beraten. Tun das inzwischen auch bei der PDS. Macht dieses Wanderprediger-Dasein wirklich Sinn?
Erfolge sieht man selten, meistens habe ich immer wieder allzu große Erwartungen. Dennoch kann ich nicht aufhören, wenigstens zu versuchen, das regierungsamtlich beanspruchte Monopol auf Weisheit und Wahrheit zu durchbrechen. Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man Hofnarr oder Mahner sein will. Und ich habe mich für Letzteres entschieden. Übrigens haben Sie bei der Aufzählung meines Wanderprediger-Tuns die Gewerkschaften vergessen. Die halte ich nach wie vor für eine wichtige politische Säule für eine andere Politik.

ND: Bei Grünen und SPD sind Sie enttäuscht über das Echo auf intellektuelle Kritik von links. Wie ists bei der PDS?
Ich rede gern mit klugen Köpfen in der PDS, beispielsweise in Holters Denkwerkstatt in Mecklenburg-Vorpommern. Ich tue es auch, weil mich schon mitunter die Sorge umtreibt, dass die Politiker in dieser Partei durch den Alltag so abgeschliffen werden, dass sie Profil verlieren. Wenn beispielsweise die Managementfehler in Holters Ministerium - auch durch ihn persönlich - dazu führen, dass einer aus der CSU sagen kann, lasst die PDS ruhig mitregieren, weil nur so die Entzauberung der Partei stattfindet und alle sehen, die sind auch nicht besser, ärgert mich das schon. Es ist eine wichtige Verantwortung für PDS-Politiker, wo auch immer, in der praktizierten Politik transparent zu sein und ethisch begründbar zu handeln.

ND: Hört der Schweriner Arbeitsminister auf Ratschläge aus der Denkwerkstatt?
Also erstens finde ich seine Idee der Denkwerkstatt richtig gut, weil das schlichtweg ein Ort ist, in dem tatsächlich nachgedacht wird. Das kommt in der Politik ansonsten selten vor. Inwieweit das, was wir in diesem sehr unterschiedlich zusammengesetzten Gremium erörtern - Unternehmer, Bankenvertreter, Wissenschaftler, Politiker - in praktische Politik umgesetzt werden kann, da habe ich gelegentlich meine Zweifel. Sinn der Übung ist es aber, dass strategisch etwas rauskommt, was man anwenden kann.

ND: In Sachen Arbeitsmarkt-Politik steht aber Mecklenburg-Vorpommern auch nicht besser da als andere Bundesländer.
Stimmt. Wenngleich: In Sachen öffentlicher Beschäftigungssektor hat Holter schon etwas mehr erreicht, als andernorts. Und überdies kann ein Landesminister nicht die Welt bewegen. Er kann höchstens ein paar Akzente setzen.

ND: Das ist genau die Argumentation auf allen Ebenen. Holter sieht seinen Spielraum durch den Bund begrenzt. Eichel seinen durch die EU, andere machen es sich noch einfacher und reden schlicht von den geschwundenen Steuerungsmöglichkeiten durch die Globalisierung.
Tja, und da muss man genau gucken. Es gibt für den Bundesfinanzminister erheblich größere Handlungsspielräume, als er sehen will. Und es gibt vor allem dringenden Steuerungsbedarf - durch eine koordinierte Politik in Europa, durch weltweite Regulierungen. Die Forderung von Attac nach der Tobin-Steuer ist letztlich doch nur ein Symbol - für die dringende Notwendigkeit einer grundlegenden Stabilisierung internationaler Finanzmärkte.

ND: Bei Attac machen Sie also auch mit?
Na klar. Ich bin begeistert von dieser Bewegung, und das nicht nur, weil bei Attac Deutschland ehemalige Studenten der Uni Bremen Verantwortung übernommen haben. Es zeigt sich - und das macht mich wieder optimistisch - dass es jenseits der Parteien ein Interesse an alternativer Politik gibt. Attac ist eine typische außerparlamentarische Bewegung. Was die Grünen, die inzwischen voll etabliert im Herrschaftsapparat der Bundesrepublik sind, mal waren. Diese Rolle in der Gesellschaft haben sie verspielt und so gesehen ist Attac ein Schlag ins Gesicht der Grünen.

ND: Dabei wollen die Grünen Attac vereinnahmen.
Erstens sind Parteien nicht in der Lage solche Strömungen zu integrieren. Und zweitens sollten sie das auch nicht tun. Die einzige Chance, dass sich Attac zur explosiven Kraft entwickelt und wirklich ein Stück weit die Gesellschaft zumindest in ihrer Ideologie verändert, ist - sie tun das außerhalb der Parteien. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin selbst ein Kind der APO.

ND: Lohnt es sich aus dem Bremer Elfenbeinturm zu steigen, um Politiker zu beraten, die dann doch machen, was sie wollen, Gewerkschaftern wieder Vertrauen in die eigene Kraft zu geben - oder auf die Straße in Berlin zu gehen, um nach einem Politikwechsel zu rufen?
Ich stehe immer doppelbeinig. Ich bleibe mit dem einen Bein im Elfenbeinturm. Den braucht man zur Besinnung - auch zur Distanz, um unbeeinflusst von politischen Strukturen und Interessenlagen über die Dinge nachzudenken. Mit dem anderen Bein stehe ich voll in der Politik. Und deshalb gehöre ich auch jetzt zu denen, die Rot-Grün kritisieren - um wieder für eine in Richtung auf Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Umwelt ausgerichtete Politik zu kämpfen. Wegen dieser Doppel-Bein-Strategie habe ich bislang alle Anfragen, vielleicht doch einmal in die Politik zu gehen, verneint - da würde mir das Bein im Elfenbeinturm abhanden kommen. Und das brauche ich ganz einfach.

ND: Aber vielleicht braucht die Politik auch endlich mal ein paar Leute vom Fach?
Das stimmt. Wir haben zu wenig engagierte Fachleute in der Politik, zu viele Politiker, die sich durch alle Instanzen hochgedient haben. Dennoch bin ich vorsichtig mit der Forderung nach den Fachleuten - beispielsweise aus der Wirtschaft. Es gibt keine Garantie dafür, dass ein guter Wirtschaftsmann auch guter Wirtschaftspolitiker wird. Nehmen wir nur den derzeitigen Bundeswirtschaftsminister - der kommt aus der Energiewirtschaft und niemand wird behaupten, dass er ein glückvoller, erfolgreicher Politiker ist.

ND: Also doch Berufspolitiker, die sich in ihren Parteien Instanz für Instanz und Jahr für Jahr nach oben profilieren?
Wir brauchen Leute, die Fachverstand haben - und existenziell nicht abhängig sind von dem System. Das kann man bei den Grünen exemplarisch besichtigen. Die ganze Konversion ihrer Politik hat auch damit zu tun, dass sich viele Grüne - personell und was die Einkommen betrifft - auf das System eingelassen haben. Mit Abhängigkeit von dem Politsystem reproduziert sich immer wieder neue Abhängigkeit - aber kaum fortschrittliche Politik.

ND: Keine Berufspolitiker, keine Leute aus der Wirtschaft. Was denn dann?
Leute aus den Universitäten sind geradezu prädestiniert zu sagen, wenn ich denn scheitern sollte oder aber das Projekt hoffentlich erfolgreich beendet ist, kann ich zurück in die Uni.

ND: Ein klassisches Eigentor für das Importprodukt aus Bremen, Herr Hickel!
Vielleicht.

Fragen: Gabriele Oertel

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