Ermutigungen zum Verrat

Matthias Dell, Simon Rothöhler und ihr Buch »Über Thomas Heise«

  • Hans -Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Matthias Dell und Simon Rothöhler beschreiben in ihrem Buch die Kunst des Dokumentarfilmers Thomas Heise als vielstimmige Anleitung zum Hintergehen eines Weltbildes.

Es gibt eine Denkungsart, eine Fühlweise, die nimmt so sehr Anteil an etwas, dass sie irgendwann wie ertappt vor einer peinigenden Wahrheit steht. Ich denke an Thomas Heise, seinen Film »Material«. November 1989. Neuwahl des Politbüros der SED. Die Kamera zeigt: Krenz und Schabowski treten vor die Partei-Menge. Der Politologe Dirk Baecker zur Szenerie: »Die Neuwahl wird als frohe Botschaft verkündet, obwohl, oder vielleicht auch weil, viele der Alten, wenn auch nicht die Ältesten, gleich wiedergewählt worden sind.« Es sei historisch ein Moment gewesen, »in dem die Einsicht in die Unmöglichkeit des Sozialismus« zugleich die Kühnheit gebar, er sei jetzt erst wirklich möglich. Weil man, so zitiert Baecker Genossen-Stimmen im Film, »die Disziplin und das Gewissen auf seiner Seite weiß ... und weil man die Schönfärberei ebenso betreibt wie kritisiert«.

Solche tragischen, komischen Momente bewegen Thomas Heise. »Das sich laufend Verschiebende, Wegrutschende, Instabile und seiner selbst Ungewisse« (Baecker). Die Paradoxie des Sozialismus: Er war »Material, das zu bewegen wäre« - das aber eines Tages dann »auf eine Art organisiert ist, dass sich nichts mehr bewegen kann«. Jene dauerhafte linke Illusion, man könne kritisieren, ohne zu beschädigen, und die Disziplin und das Gewissen, die Schönfärberei und die Kritik ließen sich gewiss vereinen, offenbart sich derzeit auch bei der linken Wahrnehmung des griechischen Dramas: wie viel Begeisterung für Tsipras - aber wie viel Knirschen nun, weil er ein gnadenvoller Realpolitiker ist; wie viel Windungskunst, um die Solidarität mit ihm und die Kritik an ihm so in eine Balance zu bringen, dass Pathosdisziplin und bessere Einsicht in die wahre Lage der Dinge einander vertragen. Aber Disziplin und Gewissen vertragen einander nie. So, wie niemals die Behauptung überzeugen kann, jene Eisblumen am Fenster, die untrügliche Botschafter gefährlichen Frostes sind, seien doch nur aus Wasser.

Thomas Heise filmt die Eisblumen - und die Atemstöße vor dem verschleierten Fenster. Auf Kälte reagiert er mit kaltem Blick. Der kalte Blick ist ein Genuss. Noch auf das Liebste. Der kalte Blick geht fremd - und entdeckt über diesen Umweg den Wert dessen, was einem so nah war und bleibt. Nämlich nicht die Erfüllung, sondern das Scheitern daran. Nicht das Ziel, sondern das Labyrinth. Nicht der Bestand, sondern dessen Gefährdung. Die Dokumentarfilme von Thomas Heise sind eine Feier jenes kalten Blicks, der sich an allem neu erhitzt, was die Welt an Abbruch mitten im Aufbau, an Auflösung mitten auf den Lösungswegen, an der Zerfransung inmitten des doch so Manifesten, an der Grenzbestimmung mitten im Freiheitsgebaren zu bieten hat. Im Gespräch mit dem Vater des Dokumentaristen, Wolfgang Heise (»kein Parteibuch-Philosoph«, sagt Jürgen Kuttner), beruft sich Heiner Müller auf Brecht: »Jeder sollte sich von sich selbst entfernen, sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist«. Das ist es, das Fremdgehen. Die Schärfung eines gedanklichen Gespürs, das den Verstand an seine tierische Wurzel, die Witterung, bindet. Folgerichtig heißt es über die Filme von Thomas Heise: »Je länger die Kamera ein Bild festhält, desto fraglicher wird, was dieses Bild zum Ausdruck bringen kann.« Schwebe, Unsicherheit, Überforderung, Reizung.

Über zwanzig Dokumentarfilme hat Thomas Heise gedreht. Filmpublizist Matthias Dell (»Tatort«-Kolumnist im »nd«) und Medienwissenschaftler Simon Rothöhler haben ein Buch herausgegeben, das in Beiträgen von über zwanzig Autoren - darunter der zitierte Dirk Baecker - das Werk des Filmkünstlers ins literarische, analytische, erzählende, skizzierende, wissenschaftliche Wort nimmt. »Über Thomas Heise« heißt der stimmenfarbige, ja: fesselnde Band; Titel und Broschur verweisen auf den Werkstattcharakter der Beobachtungen und Bewertungen - und nehmen gleichsam den unaufwändigen, unspektakulären, spröden Grundzug des Filmwerkes auf. »Seitenstraßenblicke«, wie die Herausgeber schreiben. Die Bilder laufen frei herum in unserem Kopf, alles hat Platz, nur der klischierte Zusammenhang nicht. Der Riss zwischen den Filmbildern zeigt den Auftrag der Kunst: Beschreibung zu bleiben, die den Mut hat, einen Gedanken so lange zu vermeiden, bis die Erfahrung gesprochen hat. »Das gelingt, weil das Zentrum des Films leer ist. Angeboten wird stattdessen ein Rahmen, der offen ist.« Medienwissenschaftler Rembert Hüser über den Film »Vaterland«. Ein Dorfporträt, in dem deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts Raum greift, in Familiengeschichtsfetzen, die gewissermaßen Tuchfühlung zum Kosmos haben. Der Mensch, alles und ein Nichts. Vor allem: nichts von allem, was Tendenztölpel ideologisch von ihm behaupten.

Heise dreht 1980 im 2. Studienjahr an der Filmhochschule Babelsberg seinen Erstfilm, über eine Familie in Berlin Prenzlauer Berg. Suff, Kriminalität, verschwommene Sozial᠆situation - der Titel des Films (eine Lehrer-Frage an Heise) nimmt vorweg, warum er nicht gezeigt werden durfte und von welchem Ton Menschen damals niedergewalzt werden konnten: »Wozu denn über diese Leute einen Film?« Zwei Jahre später bricht Heise das Studium ab, »das war das Resultat der ›operativen Bearbeitung‹ durch das Ministerium für Staatssicherheit«, schreibt Annett Gröschner; sie sieht im ersten Film des späteren Meisterschülers der Akademie der Künste »schon alles angelegt: Geschichten ohne Anfang und Ende, die Verweigerung von Antworten.« Und da ist das durchgehaltene Schwarz-Weiß, nicht wegen Schwarz, nicht wegen Weiß - wegen der Lebensfarbe Grau.

Jürgen Kuttner erzählt über die Filme »Das Haus« und »Die Volkspolizei«, Mitte der achtziger Jahre, und er fasst deren tiefe Alltags-Wahrhaftigkeit jenseits aller Entweder-Oder-Klischees von Staat gegen Bürger und Bürger gegen Staat in einen DDR-erklärenden Witz: »Wir, sagte der Bürger zum Staat, tun so, als ob wir arbeiten, und ihr tut so, als ob ihr uns bezahlt.« Ein Frieden, lebbar. Heise drehte Filme über Stunden am Imbiss, im Garten, in Industrielandschaften - Filme »ohne Muskelspiel« (Christoph Hochhäuser), über Menschen, die »die Normen der üblichen Alltagskultur, der Körperlichkeit, der Regelmäßigkeit, des Schönheitssinns gegen den Strich gebürstet« haben (Michael Suckow). Aufsehenerregend damals die Halle-Neustadt-Trilogie »Stau - Jetzt geht’s los«, »Neustadt«, »Kinder. Wie der Zeit vergeht«): ziellos explodierende Jugendenergie im Osten; der Systemwechsel nur als Austausch der Blindflecken; Gewalt, Rechtsradikalismus, Orientierungslosigkeit. »Wo lernt man eigentlich das Leben?« fragt Bert Rebhandl in Heises Trilogie hinein? In der Familie? In der Gesellschaft? Der »Ausbildungsdirigismus der DDR« war eine soziale Leistung - freilich mit Freisetzung jener Fluchtträume, die jede staatliche Eingliederungspraxis unweigerlich hervorruft.

Heyses Filme: lange, lange Bildfolgen, willkürliche Augenaufschläge. Ob Gespräche mit dem in Frankreich lebenden Bruder, Theaterproben bei Heiner Müller und Fritz Marquardt oder der Papstbesuch in Deutschland: Spuren-Elemente. Puzzle ohne Vorlage. Einzelheiten, die von ihrem Autismus nicht geheilt werden wollen. »Heise macht seinen Zuschauern die Welt nicht entzifferbar« (Christina Nord). Ausdauernder Impressionismus. Untergangszeit. Übergangszeit. Übergangene Menschen, die aus den Bildern auftauchen wie Tote. Stumme Entlangfahrten in Berlin, Häuserfluchten. Der berühmte 4. November 1989. Ein Tag, den Heise auch als sehr trist zeigt. DDR rund um den Alex: Gepeinigt durch heutige Grellheit, vergessen wir gern, was das Grau für eine Herrschaft aus Trabant-Qualmwolken errichtet hatte. Eine Einwohnerversammlung zur Wendezeit, auf der eine alte Dame fürs Liedersingen im »Klub der Werktätigen« wirbt. Immer ist alles lachhaft und bitter in einem.

Das Buch enthält neben den geschriebenen Texten auch Tonbandprotokolle von Weggefährten und Kollegen; so wird auch der Theaterregisseur Heise porträtiert, der »verstand sich als Partisan, der sich bekanntlich nicht zur Parade aufstellt« (Stephan Suschke). Ein kluges Buch - Film-, DDR- und Personalgeschichte. Eine vielstimmige Anleitung zum Verrat: Wie hintergehe ich mein Weltbild? Wie unterspüle ich meinen Begriffsbeton? Einmal, in »Material«, beschimpft einer der von der Kamera Beobachteten Heises Arbeit als Voyeurismus. Nein, es sind Spiegelscherben und zugleich Röntgenbilder: Wir stolpern in diesen Aufnahmen in unseren Sinnversuchen herum. Geschichte findet statt, aber wir - wir finden uns nicht.

Matthias Dell, Simon Rothöhler (Hrsg.): Über Thomas Heise. Verlag Vorwerk 8 Berlin. 200 S., mit Fotos, engl. Broschur, geb., 19 €.

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