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»Wir wollen nur überleben«

Egon Bahr über den Neuanfang 1945 in Berlin und die Lektüre des alten »Neuen Deutschland«

  • Lesedauer: 3 Min.

Am 19. August starb Egon Bahr. 2006 traf sich Carsten Hübner für einen Film über die Geschichte des »Neuen Deutschland« mit dem SPD-Politiker. Ein Großteil des Gesprächs ist bisher unveröffentlicht geblieben.

Bahr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg bei der »Berliner Zeitung« als Journalist angefangen und erzählte rückblickend über die Anfangszeit: »Die ersten Zeitungen wurden, egal, von wem sie kamen, den Leuten aus der Hand gerissen und waren im Grunde Informations- und Mitteilungsblätter über die ganz wichtige Frage: Wie ist die nächste Zuteilung?« Es habe eine Stimmung geherrscht nach dem Motto: »Wir wollen nur überleben. Und wenn es denn irgend möglich wäre, dafür sorgen, dass wir Pappe vor die Fenster kriegen und vielleicht ein trockenes Zuhause. Und vielleicht, wenn es noch hoch kommt, ein bisschen Brennstoff, um eine warme Stube zu haben. Das heißt, ganz existenzielle Überlebensfragen waren beherrschend - und dafür waren die Zeitungen, wer immer sie machte, wo immer sie herkamen, willkommen. Ich weiß, wie schwierig es gewesen ist, überhaupt zu garantieren, ob die regelmäßig erschienen. Was heißt regelmäßig? Doch nicht jeden Tag, aber jedenfalls zweimal in der Woche.«

Die erste Ausgabe der »Berliner Zeitung« war am 21. Mai 1945 erschienen - mit der Schlagzeile »Berlin lebt auf« und vier Seiten. Das Blatt kostete damals 10 Pfennig, Chefredakteur war zunächst der sowjetische Oberst Alexander Kirsanow, die Zeitung kam in einer kleinen Druckerei in der Kreuzberger Urbanstraße auf Papier. Kirsanow wurde dann von Rudolf Herrnstadt abgelöst, einem späteren Chefredakteur des »Neuen Deutschland«.

Egon Bahr: »Er war das, was man einen scharfen, strengen Mann nannte. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, oder zweimal außerdem gesprochen persönlich. Und er machte den Eindruck eines brillanten Intellekts, scharfsinnig, redegewandt und einen im Übrigen menschlich kalten Eindruck. Aber das kann an der sporadischen Begegnung gelegen haben. (…) Herrnstadt hatte mich zu einer Reportage verdonnert, weil das, was ich schrieb, so ein bisschen abstrakt oder theoretisch sei, und er wollte nun mal das richtige Leben ausprobieren. Jedenfalls ausprobieren, ob ich es schreiben könnte.« Heraus kam ein »Elaborat«, so Bahr: »Es dampfte förmlich von Schweiß und Arbeit und Lärm. Das las er sich durch und sagte, ja, so ist das Leben. Und da wusste ich, das ist nicht der Ort, wo ich länger bleiben würde.«

Als Vordenker der Ostpolitik und Berater von Willy Brandt hatte Bahr dann auch mit dem »Neuen Deutschland« zu tun. Gelesen hat der SPD-Politiker die Zeitung allenfalls aus beruflichen Gründen. Er erinnerte sich: »Das ND war das Sprachrohr, Verlautbarungsorgan. Eine eigene Meinung, eine unabhängige interessante Meinung hat man dem nicht entnehmen können. Man hat nur in solchen Tagen, wie bei den Verhandlungen über die Passierscheine, jeden Morgen gelesen, ob bestimmte Formulierungen auf bestimmte Absichten oder bestimmte Punkte hinweisen, die in den Gesprächen (zwischen der DDR und der Bundesrepublik, Anm. d. Red.) eine Rolle spielten, nicht drin waren, oder anders waren. Ansonsten war es ganz uninteressant - Pflichtlektüre für diejenigen, die es mussten. (…) Das Bundespresseamt hatte ja eine Auswertung der gesamten Ostpresse, nicht nur DDR, sondern darüber hinaus, und das wurde einem vorgelegt und das ersetzte viele Stunden schrecklicher Lektüre.« nd

Im nd-Shop ist noch eine Rest-Edition von 100 Exemplaren des Films von Carsten Hübner über die Geschichte von »Neues Deutschland« erhältlich.

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