Gesten, Stimmen, Zusammenklänge

Johannes Bobrowskis Musikwelt. Zum 50. Todestag des Dichters

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 7 Min.

Da er, Bobrowski, um die Memel herum aufgewachsen sei, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit, habe er am Ilmensee begonnen zu schreiben: über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus sei ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Die Deutschen hätten an der früheren deutsch-litauischen Grenze mit ihren Nachbarn miteinander und durcheinander gelebt. »Ich habe also einiges an Kenntnissen und Erfahrungen mitbringen können für dieses Thema. Und auch sonst ist die Wahl desselben so etwas wie eine Kriegsverletzung.«

Es wäre, so der Dichter, eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung gewesen, »seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buche steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten. Zuhilfe habe ich einen Zuchtmeister: Klopstock!« Sequenzen, welche den Horizont des Dichters markieren - weit hinein ragt Bobrowskis poetische Welt in die heutige Gegenwart.

Aufmerken lässt zugleich die Musikalität des Johannes Bobrowski und wie sich dieselbe in seiner poetischen Produktion niederschlägt. Er wäre vielleicht sogar Musiker geworden, hätte ihm ein musikalisch begabterer Jugendfreund nicht davon abgeraten. Bobrowski - er malt gleichzeitig - steigt früh ein in die Musikpraxis: Klavierausbildung, Kompositionsversuche. In Königsberg, wo er sich eine Zeit lang aufhält, erlernt er das Orgelspiel. Später traktiert er das Clavichord. Es steht im Arbeitszimmer seines Hauses in Berlin-Friedrichshagen, wo er seit den dreißiger Jahren zu Hause ist. Bobrowski singt sogar zeitweilig im dortigen Kirchenchor. Keine bleibende Idylle.

Der Dichter muss in die Wehrmacht und zwölf Jahre lang Krieg und Gefangenschaft durchmachen. Seine Vorliebe für die Musik bleibt davon unberührt. Bobrowski schätzt vor allem Gesänge der Renaissance, Werke des Barock, Musik von Mozart, Bartók. Der Name Schönberg fehlt. Er fehlt wie die Namen des phonetisch bewegten Wortexperiments, das im Westen seinen Ort hatte. Avantgardekunst ist seine Sache nicht. Er hingegen nimmt den Geist und Klang alter Volks- und Kirchenlieder auf und sammelt diese, ja - man staune - er überträgt Vokalwerke von Buxtehude, Bach und anderen in Fassungen für Klavier. Buxtehudes Orgelmusik mochte ihm die reine Freude gewesen sein.

Gern schreibt der 1917 geborene Bobrowski Gedichte auf bekannte und unbekannte alte Meister. Einen Zyklus nennt er »Der Regenbogen/ Improvisationen über alte Musik«, worin Verse über den Lüneburger Orgelmeister und Lehrer von Johann Sebastian Bach, auch über die Kleinmeister Reinken, Weckmann oder Bruhns anzutreffen sind. Ein anderer heißt »Konzert für Klavier und Orchester«, in vier Sätzen gedichtet. Mozart, Mendelssohn, Bartók stehen gleichfalls dichterisch Modell. Es sind gelegentlich rätselhafte, schwer dechiffrierbare Würfe des Meisters. Doch welch klangerfüllte Verse darf das Ohr in dem »Initial für eine Zeit Lorcas« vernehmen? »Auf dem Wind aber fahr,/ Stimme,/ Ingnacios Leib/ Singend wie einen Rausch,/ den die Gesträuche heraufblühn/ über den Fels, über den Grund herauf,/ will, irdisch,/ über das Blutmeer/ herauf.// Ja, ich spreche in den Wind./ Wirst du mich hören? Der Regen/ Und hinter den letzten/ Feuern der Schnee,/ rauchig, ich seh den Vogel,/ Reif auf der Schwinge,/ über dem Eis/ treibt er, ich sprech in den Wind - «

Der junge Bobrowski erhält zugleich eine erstklassige gymnasiale Ausbildung. Er lernt, Griechisch und Latein im Original zu lesen. Studiert er wiederholt Verse von Dichtern wie Hölderlin, Klopstock, Jean Paul, Büchner, weiß er sie bald auswendig herzusagen. Strukturen der Musik mochten sich ähnlich festgesetzt haben. Nicht selten verwendet Bobrowski Formen, die Sonate, Fuge, Suite heißen, und knüpft Versstrukturen an Ordnungsprinzipien der Musik. Seine Devise: »Das beste Mittel: KONTRAPUNKT!«

Des Dichters unerhörtes Gespür für Gesten, Stimmen, Zusammenklänge offenbart sich sehr anschaulich in »Ich will fortgehen - Erzählung für sieben Stimmen«, ein Titel, dem Hörspiel, der Musik entlehnt. Auffällig hier, wie behänd und subtil diese Stimmen aneinandergefügt und ineinandergesetzt sind. Fast will es scheinen, als strukturierten Triebe Bachscher polyphoner Techniken den Ablauf der Texte. »Wie kann ich fortgehen« - darum kreist die Motivik. »Die Unordnung geht umher, es wird dunkel.«

Der Schriftsteller Stephan Hermlin, selbst der Kunstmusik zuinnerst verbunden, ruft 1965 dem viel zu früh gestorbenen Johannes Bobrowski nach: »Ein endloser, unaufhaltsamer Ostwind jagt durch diese Dichtung. In ihr treffen Juden und Litauer, Polen und arme Deutsche aufeinander, vereinen sich gegen ihre Unterdrücker, werden von ihnen besiegt.«

Stärken des Ostwindes wehen sehr ohrenfällig in »Levins Mühle«. Udo Zimmermann schuf 1974 eine denkwürdige Oper aus dem Stoff, Libretto: Ingo Zimmermann. Szenen verschleifen Themen und Motive des Romans und spitzen sie expressiv zu. Der Roman windet um den Akt, dass die Mühle des Konkurrenten Levin über Nacht absichtlich weggeschwemmt worden sei, anschwellende Konflikte. Der Kriminelle ist - alle wissen es - Großvater Johann, respektabler Kleinunternehmer, Baptist, dem deutschen Kaiser treu ergeben. Weil der von seinesgleichen gedeckt wird, gewinnt er vor Gericht. Nationale Ressentiments brechen auf. Schreiendes Unrecht. Hass. Widerstand. Deutsche springen mit ihren Nachbarn, diesmal den Polen, um wie der gestriegelte Herr mit den Knechten. Im Konfliktfeld agieren Zigeuner, jüdische Leute, Katholiken, evangelische Sektierer, italienisch-polnische Zirkusdamen und -mannen.

Vielerlei derbe, komische volkstümliche Farben treiben in der Oper ihr Spiel. Der Zigeunerzirkus »Scarletto« tritt auf. Er soll den Leuten im Dorf Augen und Ohren öffnen. Wie die Schauspielszene in Shakespeares »Hamlet« gerät die Vorführung zum Tribunal. Weiszmantel singt das Lied von der polnischen Freiheit, unterstützt von Frauenstimmen und der Geige des getreuen Habedank. - Zeitlos ist dieser Zeitroman. Er könnte überall spielen, auszuwechseln wären allein die Orts- und Personennamen. Eine neue, radikalere Oper könnte allemal daraus entstehen.

Gewachsene deutsch-polnische Kulturverbindungen wissen kurioserweise immer noch nichts mit dem Dichter anzufangen. Ausnahme: Friedrich Schenkers 2009 in Szcezcin und Neubrandenburg aufgeführte viersätzige »Stettiner Sinfonie« für Chor und Orchester nach Texten von Johannes Bobrowski, ein Auftrag des Künstlerhauses Vorpommern. Gedichte von Bobrowski hätten ihn regelrecht angesprungen, bekannte Schenker seinerzeit. Den verwendeten eignet durchweg ein kritischer Ton, der auf Versäumnisse, Befürchtungen, Defizite hinlenkt. Helle sprachliche Färbungen fehlen weitgehend, die Landschaft, die Bäume, der Vogelflug, Gott, sie sind dunkel, »... im Dunkel geht ihre Rede«. Immer meint der Dichter Menschen. »Dorfmusik« bannt volkstümliche Redewendungen, während »Immer zu benennen« und »Anthropomorphe Landschaft« hoch sprachlich, rhythmisch frei wie gebunden gedichtet sind. Das Schlussgedicht »Sprache«, ein Gemisch aus Naturlyrik und Grabgesang, treibt Schenker in grellen Formulierungen auf die Spitze. Die letzten Zeilen lauten: »Sprache/ abgehetzt/ mit dem müden Mund/ auf dem endlosen Weg/ zum Hause des Nachbarn«.

Das vollständige Gedicht enthüllt am klarsten die Programmatik des Werkes. Das Wort »Sprache« wird zwar chorisch hin und her bewegt, hängt aber letztlich in einem Gewirr aus Zweiton-Motiven fest. Vor dem orchestralen Finale steht ein Takt, der mit »LARGO« überschrieben ist. Er hat keine Noten. Eine Denk- und Atempause, bevor das folgende, nach monodischen Prinzipien formulierte Crescendo anhebt. Weitgesteckte Intervalle gewinnen zusehends an Gewicht, die Dynamik pendelt zwischen laut und leise, das Orchester atmet tief. Jene Melodik auf einem Ton ist gesäumt von fremdem, schmutzigem Material. Eine »harmonische« orchestrale Landschaft über Risse und tiefe Klüfte hinweg beendet das Werk. Unerreichbar scheint das Haus des Nachbarn.

Heute vor 50 Jahren starb der große Dichter Johannes Bobrowski.

Im Verlag Klaus Wagenbach erschien jetzt Bobrowskis Roman »Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater« neu in feiner Ausstattung (224 S., geb., 17,90 €).

Der Verlag für Berlin Brandenburg brachte den Band »Sarmatien in Berlin. Autoren an, über und gegen Johannes Bobrowski« von Andreas Degen heraus (192 S., geb., 16,99 €).

Am 2. September, 14 Uhr lädt die Johannes-Bobrowski-Gesellschaft zur Enthüllung einer »Berliner Gedenktafel« in die Zimmerstraße 79/80 ein.

Um 19 Uhr beginnt in der Katholischen Akademie, Hannoversche Straße 5, 10115 Berlin, unter dem Titel »In der großen Stille komm ich zu Dir« eine »Johannes-Bobrowski-Nacht.«

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