nd-aktuell.de / 05.09.2015 / Kultur / Seite 26

Chamäleons im Weltall

Eine Art Tomographie des Universums soll Antworten auf die Frage nach der Natur der Dunklen Materie liefern. Von Dieter B. Herrmann

Dieter B. Herrmann

Die beiden größten Rätsel der Kosmologie sind wohl die «Dunkle Materie» und die «Dunkle Energie». Letztere treibt das Universum immer schneller auseinander, erstere macht sich einzig durch ihre Gravitationswirkung bemerkbar. Je mehr Details man über diese beiden mysteriösen Phänomene in Erfahrung bringen kann, umso eher hofft man, die Schleier der sie umgebenden Geheimnisse zu lüften. Wie intensiv man sich weltweit mit diesen Fragen beschäftigt, zeigen gleich mehrere neue Publikationen, die fast zeitgleich erschienen sind und sich auf unterschiedlichen Wegen den Problemen nähern.

Eine der neuen Arbeiten hat sich erstmals mit der Dunklen Materie in unserer heimatlichen Galaxis detailliert auseinander gesetzt. Die Forscher eines Teams um Fabio Iocco von der Staatlichen Universität São Paulo (Brasilien) benutzten zahlreiche neue Daten über die Bewegungen von Gaswolken und Sternhaufen und leiteten daraus sehr genaue Rotationskurven der verschiedenen Teile der Galaxis ab. Dann verglichen sie diese mit den Kurven, die man theoretisch erwarten würde, wenn es keinerlei Dunkle Materie in der Galaxis gäbe. Die Differenz erklärt sich bestens aus Computersimulationen der Verteilung von Dunkler Materie.

Die großräumige Anordnung der Dunklen Materie wurde soeben im Rahmen des Projektes KiDS (engl. für «Tausend-Grad-Vermessung) unter Benutzung des Very Large Survey Teleskops und des Infrarot-Teleskops VISTA der Europäischen Südsternwarte ESO auf dem Cerro Paranal in Chile kartiert. Bislang sind allerdings nur sieben Prozent des geplanten Areals erfasst worden. Die Forscher benutzten den Gravitationslinseneffekt. Das Licht von über zwei Millionen Galaxien (in etwa 5,5 Milliarden Lichtjahren Entfernung) wird durch Dunkle Materie verzerrt, die sich zwischen den Galaxiengruppen und der Erde befindet. Es handelt sich gleichsam um eine gigantische »Computertomographie« des Universums. Das Ergebnis deutet darauf hin, dass in den Galaxienhaufen etwa 30 Mal mehr Dunkle als sichtbare Materie enthalten ist. Im Zentrum eines großen Klumpens Dunkler Materie befindet sich fast immer die hellste (größte) Galaxie eines Haufens. Der Leiter des internationalen Teams, Koenraad Kuijken von der Sternwarte Leiden (Niederlande), deutet diesen Befund dahingehend, dass sich Galaxiengruppen durch das Einsaugen von immer mehr Galaxien bilden, die sich dann im Zentrum häufen.

Über die Natur der Dunklen Materie sagen die Befunde allerdings nichts. Dieser Frage gehen Forscher des XENON-Experiments mit Methoden der Experimentalphysik nach. XENON ist ein internationales Experiment, das 1400 Meter unter der Erde im italienischen Gran-Sasso-Massiv läuft. Dort versucht man, schwach wechselwirkende schwere Teilchen (sogenannte WIMPS = Weakly Interacting Massive Particles) direkt nachzuweisen. Diese hypothetischen Teilchen gelten nämlich als mögliche Kandidaten für die Dunkle Materie. Die Erde sollte bei ihrer Bewegung in der Galaxis ständig mit Dunkler Materie kollidieren, so dass gelegentliche Streuprozesse an den Atomkernen des Detektormaterials zu erwarten sind. Durch die gleichzeitige Erdbewegung um die Sonne und mit dieser um das Zentrum der Galaxis müssten die Messergebnisse jahreszeitlich schwanken.

Als Detektor fungieren 62 Kilogramm flüssiges Xenon, dessen Atome bei Streuungen durch WIMPS sowohl Ladungs- als auch Lichtsignale verursachen. Gegenüber Störungen ist die Anlage nicht nur durch das Bergmassiv, sondern auch noch durch Schichten aus Kupfer, Polyethylen, Blei und Wasser abgeschirmt. Als »echte« Signale werden nur solche gewertet, die in den inneren Bereichen des Xenontanks auftreten. Insgesamt ist die Rate störender Hintergrundsignale damit ca. 100 Mal niedriger als bei früheren Experimenten. Die jetzt veröffentlichten Messungen brachten allerdings keinerlei Signale. Das steht völlig im Gegensatz zu früheren Resultaten einer anderen Forschergruppe, die Signale mit der erwarteten jahreszeitlichen Variation gefunden haben wollte. Nach der neuen Publikation der XENON-Forscher muss dies jedoch offenbar ausgeschlossen werden. Die theoretisch postulierten Eigenschaften der Dunklen Materie werden dadurch weiter eingeschränkt.

Verblüffend Neues brachten Beobachtungen einer Kollision von vier Sternsystemen in dem Galaxien-Haufen »Abell 3927«. Hier konnte die Verteilung der Dunklen Materie mit dem Very Large Telescope der ESO und dem Hubble-Weltraumteleskop bestimmt werden. Es zeigte sich, dass es einen Klumpen Dunkler Materie bei einer der Galaxien gibt, der gegenüber den Kollisionsbewegungen zurück bleibt. Das deutet für die Forscher darauf hin, dass Dunkle Materie auch mit sich selbst in Wechselwirkung treten kann und zwar durch andere Kräfte als die Gravitation. Der Erstautor der Studie, Richard Massay von der englischen Durham University, sieht darin einen »Hinweis für eine reichhaltige Physik im dunklen Sektor«. Es bedarf aber noch weiterer ähnlicher Beobachtungen und entsprechender Computersimulationen, um darüber endgültige Gewissheit zu erlangen.

Auch für die Dunkle Energie gibt es zahlreiche theoretische Lösungsvorschläge. Einer davon sieht spezielle bislang unbekannte Teilchen am Werk, die ihre Masse je nach der Materiedichte in ihrer Umgebung verändern und deshalb als »Chamäleons« bezeichnet werden. Im weitgehend leeren Weltraum besitzen sie eine extrem kleine Masse, wirken aber über große Distanzen, so dass sie den Raum strecken können. In einem Laboratorium hingegen, in dem sich überall Massen befinden, sollen sie eine sehr große Masse und extrem kleine Reichweite haben.

Das wurde nun mehrfach experimentell überprüft. Bei dem neuesten Test haben Paul Hamilton und seine Mitarbeiter von der University of California Cäsium-Atome in einer Vakuum-Kammer auf eine Aluminium-Kugel fallen lassen und die Fallbeschleunigung mit höchster Präzision gemessen. Da die Dunkle Energie der Gravitation entgegen wirkt, müssten sich Abweichungen der Fallgeschwindigkeit von dem zu erwartenden Wert feststellen lassen. Doch nichts dergleichen. Im Rahmen der Messgenauigkeit fanden die Forscher bis auf ein Millionstel genau dieselbe Fallgeschwindigkeit, wie man sie auch ohne das »Chamäleon« erwarten würde. Vielleicht ist die Dunkle Energie doch eine dem Raum von Natur aus innewohnende Eigenschaft. Sicher ist aber auch das bisher nicht.