Dauerkonflikt in Malis Wüste

Waffenstillstands- und Friedensabkommen sind fürs Erste gescheitert. Von Bernard Schmid

  • Bernard Schmid
  • Lesedauer: 7 Min.

Etabliert sich im Norden Malis auf längere Dauer ein Krisenherd? Danach sieht es im Augenblick aus. »Eine neue Boko-Haram-Bewegung?« fragte das panafrikanische, aber französischen Regierungsinteressen verbundene und in Paris erscheinende, Wochenmagazin »Jeune Afrique« vor wenigen Tagen im Hinblick auf dschihadistische Aktivitäten in Zentral- und Nordmali. Der seit nunmehr zwei Jahren amtierende Präsident Malis, Ibrahim Boubacar Keita genannt »IBK«, konsultiert derzeit zugleich eifrig die Regierungen der Nachbarstaaten. Am 30. August und 1. September weilte er beim dominanten Nachbarn Algerien, in den Tagen darauf im wirtschaftlich und politisch schwächeren Nachbarland Niger. Es ging dabei stets auch um Bemühungen für eine Stabilisierung der Situation im Norden Malis.

Das zwischen dem Südrand der Sahara und den tropischen Savannen im Süden liegende, sich über die Sahelzone erstreckende Land mit rund 16 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern hieß zu Kolonialzeiten einmal »französischer Sudan«. Es wurde im Jahr 1960 von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich unabhängig. Es folgte eine staatssozialistisch-antikolonialistische Phase unter dem ersten Präsidenten Modibo Keita, der unter anderem mit der Sowjetunion verbündet war, doch im November 1968 bei einem pro-französischen Rechtsputsch der Armee beseitigt wurde. Modibo Keita starb knapp zehn Jahre später unter noch immer unklaren Umständen im Gefängnis. Unterdessen gliederte der 23 Jahre lang amtierende, aus dem Militär stammende Präsident Moussa Traoré das Land wieder fest in die postkoloniale Einflusssphäre Frankreichs und in die kapitalistischen Weltwirtschaftsstrukturen ein.

Im März 1991 stürzte eine Bewegung aus der Bevölkerung Moussa Traoré, dessen Versuch der Niederschlagung des Aufstands zuvor rund 150 Todesopfer gefordert hatte. Doch die wirtschaftlichen Machtstrukturen und Eigentumsverhältnisse wurden weiter nicht angetastet. Hoffnungen in breiten Kreisen der Bevölkerung auf ein besseres Leben wurden in der Folgezeit enttäuscht. Die während der Übergangsperiode Regierenden, die meist aus der Studierendenbewegung hervorgingen, sind heute oft Milliardäre in CFA-Francs, also Millionäre in Euro oder Dollar. Und während die Korruptionsmechanismen in der Ära von Moussa Traoré in der Regel »zentralisiert« und auf einen relativ kleinen Kreis von Nutznießern beschränkt waren, weitete sich in der Folgezeit der Kreis ihrer Profiteure aus. Manche Beobachter sprechen ironisch davon, die Korruption habe sich »demokratisiert«. Was bedeutet, dass sie sich verschlimmert hat.

Das Wirtschaftssystem wurde in den 90er Jahren sowenig umgewälzt wie die Eigentumsverhältnisse. In ihm hängt das Wohlergehen der oligarchischen Führungsschicht vorwiegend davon ab, dass sie Beziehungen zu den wirtschaftlich reichen und politisch mächtigen Staaten im Norden - wie die frühere Kolonialmetropole Frankreich - unterhält und Importlizenzen für Bedarfsgüter kontrolliert. Rohstoffe, mineralischer oder agrarischer Natur, wie im Falle Malis Gold und Baumwolle, werden weitgehend unverarbeitet exportiert, verarbeitete Produkte werden später teuer importiert. Am Aufbau von Verarbeitungsmöglichkeiten im eigenen Land hat diese Oligarchie kein Interesse. Das entspricht dem Modell, das beispielsweise Frankreich in seiner Einflusssphäre im postkolonialen Afrika fast flächendeckend durchsetzen konnte.

Derzeit liegt Mali relativ weit vorne in der traurigen »Rangliste« jener Länder, aus denen die meisten Menschen fliehen oder auswandern. Je nach Statistik rangiert Mali unter den Staaten, deren Staatsbürger sich unter den Migranten befinden, die das Mittelmeer in klapprigen Booten überqueren, an vierter bis achter oder neunter Stelle. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex spricht in ihrer Jahresstatistik 2014 etwa von insgesamt 270 000 so genannten »illegalen« Grenzübertritten von Migranten und Geflüchteten. Darunter ist Syrien mit knapp 80 000 Menschen die stärkste Nationalität, gefolgt von Eritrea, der Militärdiktatur in Ostafrika. Mit 10 575 Personen, ausweislich der Statistik der Behörden - welcher, wie allen offiziellen Zahlen, nur relativ geglaubt werden darf - liegt Mali bereits an vierter Stelle.

Die hohe Migration hängt selbstverständlich nicht nur von einem einzigen Faktor ab, sondern resultiert gerade im Falle Malis aus vielschichtigen Ursachen. Aus dem trockenen Nordwesten des Landes wandern seit Generationen Menschen aus, und diese Tatsache ist aus dem kollektiven Gedächtnis nicht wegzudenken. Doch die starke Zunahme der Zahl von Menschen aus Mali, die auch bereit sind, auf wackeligen Gefährten ihr Leben im Mittelmeer zu riskieren, basiert tatsächlich auch auf akuten Krisenfaktoren. Der wichtigste ist dabei die Krise im Norden des Landes, der bislang nicht befriedet werden konnte.

Von Januar bis April 2012 hatten Tuareg-Rebellen von der »Bewegung zur nationalen Befreiung von Azawad« - dem MNLA - zusammen mit Dschihadisten mehrerer islamistischer Vereinigungen die gesamte Nordhälfte Malis erobert. Im Zuge der französischen Militärintervention unter dem Namen »Operation Serval«, die im Januar 2013 begann, wurden sie von dort vertrieben - jedenfalls die Dschihadisten, denn der MNLA hatte schnell die Seiten gewechselt und schwang sich nunmehr zum engen Verbündeten Frankreichs im lokalen »Anti-Terror-Kampf« auf. 2014 mündete die »Operation Serval« in die dauerhafte Stationierung einer nunmehr in »Operation Barkhane« umgetauften Truppe mit Zuständigkeit für die gesamte westliche und mittlere Sahelzone, und Sitz in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena.

Inzwischen haben sich auch die dschihadistischen Milizen, die um die Jahresmitte 2013 zunächst weitgehend vertrieben und über die Nachbarländer verstreut worden waren, sich wieder vielerorts festgesetzt. Sie führen einen Kleinkrieg gegen die malischen Regierungstruppen, die UN-»Mission zur Stabilisierung Malis« (MINUSMA) sowie die 3000 Soldaten umfassende Barkhane-Streitmacht. Am 7. August etwa attackierten sie ein Libanesen gehörendes Hotel, in dem zivile Mitarbeiter der MINUSMA einquartiert waren, in der Stadt Sévaré in Zentralmali und nahmen dort Geiseln. Dabei kamen - vier Tote Geiselnehmer mit einberechnet - insgesamt 17 Menschen ums Leben. Nur wenige Stunden später fand in der Hauptstadt Bamako eine Schießerei auf dem überregionalen Busbahnhof im Stadtteil Sogoniko statt. Mutmaßliche Dschihadisten attackierten die dortige Polizeiwache. Bamako, über 600 Kilometer südlich von Nordmali gelegen, lag bislang nicht im Einzugsbereich der dschihadistischen und sonstigen »Rebellen« aus dem Norden.

Im Norden Malis, zwischen Tombouctou (eingedeutscht Timbuktu) und Goundem, finden unterdessen beinahe täglich Attacken statt, Fahrzeuge werden entführt oder staatliche Sicherheitskräfte angegriffen.

Unterdessen hat die angekündigte Überwindung der Spaltung des Landes durch das Friedensabkommen mit den Tuareg-Rebellen, das am 15. Mai in Algier ausgehandelt und am 20. Juni dieses Jahres in Malis Hauptstadt Bamako feierlich unterzeichnet wurde, nicht stattgefunden. Dafür ist nicht nur das Wirken von dschihadistischen Kombattanten verantwortlich, die sich ihrerseits nicht an diese Vereinbarung gebunden fühlen. Auch die Tuareg-Rebellion in Gestalt der CMA - »Koordination der Bewegungen von Azawad« -, deren zentrale Organisation die »Nationale Bewegung für die Befreiung von Azawad« darstellt, fühlt sich nicht länger an die Vereinbarung und den Waffenstillstand gebunden.

Am Abend des 24. August verließ sie den gemeinsamen Ausschuss der Vertragsparteien, in welchem sie gemeinsam mit Regierungsvertretern über die Umsetzung des Abkommens wachen sollte. Vorausgegangen waren in der Woche zuvor neu aufflammende heftige Kämpfe im Nordosten Malis, im Raum Kidal, wo nach wie vor die malische Armee keinen Fuß auf den Boden bekommt und Bewaffnete der CMA die Staatsmacht ersetzen. Die UN-Truppe zur Stabilisierung Malis - MINUSMA - spielt dabei faktisch eine Pufferrolle und trennt die Streitparteien. MINUSMA gibt an, ihre Rolle bestehe nicht darin, wie von der Regierung gefordert, die Souveränität der Zentralregierung über diesen Teil des Staatsterritoriums wiederherzustellen.

Eine »loyalistische«, also positiv zum Zentralstaat stehende, doch nicht durch die Regierung kontrollierte Miliz, die sich als GATIA (Selbstverteidigungsgruppe der Imghad-Tuareg und Verbündete) bezeichnet und mit einigen Alliierten zur so genannten »Plattform« zusammengeschlossen ist, entschied nun, die Lage vor Ort selbst klarzumachen. In Eigenregie vorrückend, griff sie die Tuareg-Sezessionisten der CMA an und vertrieb sie aus der Stadt Anefis. Infolge der Attacke kam es zu heftigen Kämpfen, die in ihrer intensivsten Phase vom 15. bis 17. August anhielten und bei denen allein auf Seiten der Tuareg-Separatisten mindestens 20 Kämpfer fielen. Daraufhin rief die MINUSMA eine »Schutzzone« rund um die Stadt Kidal aus, was nun von allen Seiten, Tuareg-Separatisten wie Loyalisten und Zentralregierung, scharf kritisiert wird. Sie beschuldigen die UN-Truppe, die jeweils andere Seite in Schutz zu nehmen. Die CMA trat ihrerseits aus der Waffenstillstandskommission zurück. Staatspräsident Keita forderte die »Plattform« dazu auf, sie möge die von ihr gehaltenen Stellungen nunmehr räumen.

Über die Frage, ob die »loyalistischen« Miliz GATIA dieser Aufforderung wirklich Folge leisteten, oder nicht, besteht tatsächliche Unklarheit. Immer wieder verlautbarte, sie habe mit ihrem Rückzug inzwischen begonnen. Bis in die ersten Septembertage jedenfalls hat er nicht stattgefunden. Im Kontext einer schwindenden Staatsautorität und zunehmend unkontrolliert erscheinender Gewalt sind der Waffenstillstand und das Friedensabkommen damit - zumindest vorläufig - spektakulär gescheitert. Viele Malier sehen es unterdessen ähnlich wie Issa, ein Beschäftigter einer Reiseagentur: »Wenn die Regierung nicht dazu in der Lage ist, die Kontrolle über Kidal wieder zu übernehmen, dann sollen Leute aus der Bevölkerung dort hingehen und die Separatisten töten.« Die Loyalisten und ihre Milizen knüpfen genau an solche Argumente an. Schon in den 1990er Jahren hatte es einmal einen Wildwuchs solcher Milizen gegeben, die sich darüber legitimierten, gegen damalige Tuareg-Sezessionisten zu kämpfen. Viele von ihnen behielten jedoch später ihre Waffen, die zum Teil zu kriminellen Zwecken benutzt wurden. Auch jetzt kommen sie wieder zum Einsatz.

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