Crossover in der fünften Phase

Rot-Rot-Grün? Zwischenbilanz einer schwierigen Annäherung - und was der griechische Frühling 2015 damit zu tun hat

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 9 Min.

Die erste Phase des Crossover-Prozesses war in den 1990ern Jahren vor allem davon geprägt, dass Linke in SPD und bei den Grünen ihr und damit auch das gesellschaftliche Verhältnis zur PDS normalisierten. Die SED-Nachfolgepartei hatte einerseits schwer an ihrer Geschichte als autoritäre Staatsorganisation zu tragen, sich aber andererseits nach der Wende in den ostdeutschen Ländern als politischer Faktor links der SPD etabliert. Programmatisch wurde in dieser ersten Phase des Crossover die Idee eines ökologischen New Deal wieder aufgenommen, die schon Ende der 1980er Jahre bei linken Grünen diskutiert wurde. Praktisch geprägt war diese erste Crossover-Phase allerdings von einer starken Abgrenzung der SPD-Spitze, die erst Zug um Zug aufgegeben wurde.

Die Unzufriedenheit mit der Regierung Helmut Kohls und die parteiübergreifende Sehnsucht nach einer Regierungsalternative erweiterten 1997 indes den Wirkungsradius der Debatte - wenn auch indirekt: Projekte wie die »Erfurter Erklärung« oder die aus gewerkschaftlichen Kreisen gespeiste »Initiative für einen Politikwechsel« schufen einen Resonanzboden, auf dem auch die Inhalte und Ziele der ersten Crossover-Phase zum Schwingen gebracht wurden.

Mit LINKS 
regieren?

Im Dezember 2014 wurde Bodo Ramelow der erste Ministerpräsident, den die Linkspartei stellt. Erstmals regiert zudem Rot-Rot-Grün ein Bundesland: Thüringen. Wie sieht die erste Bilanz dieses Bündnisses aus? Welche Chancen bietet die Koalition und welche Risiken? Was heißt Regieren im Alltag? Und welche Folgen hat das alles auf die Politik im Bund?

Antworten auf diese und andere Fragen werden in einem von der Thüringer LINKEN-Vorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow herausgegebenen Band gesucht – unter anderem in Beiträgen von Katja Kipping und Bernd Riexinger, Thomas Falkner, Horst Kahrs und Benjamin Immanuel Hoff. Auch der nebenstehende Auszug aus dem Beitrag von Tom Strohschneider ist dem im Hamburger VSA Verlag erschienen Sammelband entnommen.


Das Buch wird am kommenden Sonntag, den 13. September, von Bodo Ramelow und Susanne Hennig-Wellsow in Erfurt vorgestellt – um 16 Uhr im RedRoXX, Pilse 29.

Mit LINKS regieren? Wie Rot-Rot-Grün in Thüringen geht, VSA Hamburg 208 Seiten, 16,80 Euro.

Bei den Bundestagswahlen 1998 reichten dann für einen Regierungswechsel allerdings die Mandate von SPD und Grünen. Und: Die Politik der Koalition von Gerhard Schröder bedeutete einen tiefen Einschnitt in die Crossover-Diskurse. Erstens enttäuschte die Realpolitik von Rot-Grün viele Erwartungen an einen Politikwechsel, zweitens veränderte die Tatsache, dass die bisher im Crossover beteiligten Parteien nun teils in der Opposition, teils in der Regierung saßen, die Voraussetzungen für gemeinsame Debatten.

1998 begann so eine zweite Crossover-Phase, es war eine der Eiszeit und der Klärung. In ihr wurden zugleich noch lange nachwirkende Bedingungen für die Debatte zwischen den drei Parteien gesetzt. Die Agenda-Politik von Schröder war eine der Voraussetzungen dafür, dass Teile der westdeutschen Linken zunächst zwei kleinere Wahlalternativen und dann eine neue Partei links der Sozialdemokratie gründeten, die unmittelbar darauf mit der PDS zur Linkspartei zusammenging. Nicht wenige der maßgeblichen Akteure dieser halben Neugründung bezogen ihre Motive aus der Abgrenzung vor allem zur SPD, in geringerem allerdings lebensweltlich teils aggressiveren Maße zu den Grünen.

Das machte die Debatte über Parteigrenzen in der dritten Crossover-Phase ab 2005 hinweg noch schwieriger. Abermals hatten sich die bundespolitischen Koordinaten verändert: Nach der Bundestagswahl 2005 waren die Grünen wieder in der Opposition, nicht jedoch die SPD, die in eine Große Koalition eintrat.

Gegenüber den 1990er Jahren differenzierte sich in dieser dritten Phase das Crossover-Lager unter dem Einfluss neuer Akteure auch inhaltlich aus: In einem »sozialen Crossover« gingen Linke aus den DGB-Organisationen, Menschen aus der SPD und den sozialen Bewegungen sowie Teile der Linkspartei aufeinander zu. In einem »emanzipatorischen Crossover« wurden die Themen einer »kulturellen Linken« stärker zur Geltung gebracht, hier suchten Menschen aus dem Umfeld kleinerer Parteiströmungen in der Linkspartei (um Katja Kipping) und den Grünen (um Robert Zion) Kontakt, später bildete sich unter Einbeziehung kritischer Sozialwissenschaftler und einem Kreis um die Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti aus diesen Anfängen das »Institut Solidarische Moderne« (ISM). Ein dritter Schwerpunkt waren Vorläufer von Zusammenschlüssen vor allem jüngerer Bundestagsabgeordneter.

Zur Reife kamen diese Entwicklungen ab 2009: Einerseits war die SPD seit der Bundestagswahl wieder in der Opposition, was es zumindest als wahrscheinlicher erscheinen ließ, sich über Mehrheiten links der Union zu verständigen. Andererseits waren mehrfach auf Landesebene rechnerische Mehrheiten von SPD und Linkspartei beziehungsweise unter möglichem Einschluss der Grünen nicht politisch wirksam geworden. 2008 sorgte die Verhinderung einer rot-grünen Regierung unter Einschluss der Linkspartei in Hessen für Schlagzeilen - und für die nachhaltige Erkenntnis, dass es im Rahmen der bestehenden parteipolitischen Formen enge Grenzen für das Wirksammachen der politischen Substanz linksreformerischer Ideen gibt. 2009 kam es im Saarland und in Thüringen nicht zu gemeinsamen Regierungen, wobei auch hier weniger inhaltliche Differenzen wirkten - die Blockaden hatten mehr etwas mit der politischen Form zu tun, es scheiterte unter anderem an Parteilogiken.

In die mit der Bundestagswahl 2009 beginnende vierte Phase des Crossover fiel die Gründung des »Instituts Solidarische Moderne« Anfang 2010. Fast zeitgleich meldeten sich die Unterzeichner des Aufrufs »Das Leben ist bunter!« zu Wort, der das eher parlamentarisch orientierte Spektrum jüngerer Politiker aus den drei Parteien zusammenbrachte: genannt die »Oslo-Gruppe«. Eher unbeachtet von der Öffentlichkeit, aber für die Debatte durchaus kennzeichnend lief zu Beginn dieser vierten Crossover-Phase auch ein stärker akademisch angelegtes Projekt unter der Überschrift »Linksreformismus«. Praktisch blieben all diese Versuche aber von geringer gesellschaftlicher Ausstrahlungskraft. Von den Hauptmedien allenfalls skandalisiert oder als sympathische Versuche ohne große Relevanz beschrieben, von den Spitzen der beteiligten Parteien kaum beachtet, geschweige denn als Motoren einer strategischen Bündnisarbeit betrachtet - das war der Stand der rot-rot-grünen Annäherung am Ende der vierten Phase des Crossover.

Die vierte Phase des Crossover war allerdings auch eine der selbstkritischen Bilanz, gewissermaßen eine notwendige Folge der Ernüchterung. Weder konnte das linksreformerische Lager auf größere politische Erfolge verweisen, noch mit Bestimmtheit sagen, dass die - zweifellos wertvollen, inhaltsreichen und innovativen - Bemühungen größeren Einfluss auch auf zum Beispiel landespolitische Entwicklungen in Brandenburg und später Thüringen gehabt hätten. Was dort, unter je unterschiedlichen Bedingungen »funktionierte«, hatte mehr mit den örtlichen Gegebenheiten und langfristig geschaffenen Voraussetzungen zu tun als mit einem linksreformerisch inspirierten Rückenwind bundespolitischer oder gar gesellschaftlicher Art.

Im Spätsommer 2015 kann von einer fünften Phase des Crossover gesprochen werden - und das hat mit dem »Griechischen Frühling« zu tun. Wer bisher die Möglichkeit gegen Zweifel und politisch bequeme Ablehnung verteidigt hat, dass es eine linksreformerische Option unter den gegebenen Verhältnissen gibt, selbst wenn diese derzeit aus den verschiedensten Gründen blockiert ist und auch gesellschaftlich noch nicht trägt, wird sich nach dem »Griechischen Frühling« und vor allem nach der Positionierung der SPD-Spitze gegen die Regierung in Athen einige Fragen stellen müssen. Das gilt für die realistische Einschätzung von Spielräumen und Begrenzungen linksreformerischer Politik in einem Setting, das von europäischen Institutionen, Abhängigkeiten und Machtverhältnissen weit stärker geprägt ist, als es in den bisherigen Crossover-Debatten zur Kenntnis genommen wurde. Und das gilt für die SPD, deren Parteispitze sich vehement dafür eingesetzt hat, dass SYRIZA daran gehindert wird, eine sozialdemokratische Politik umzusetzen. Ohne die SPD, die bei Bundestagswahlen derzeit auf etwa ein Viertel der abgegeben Stimmen kommt, wird aber ein Politikwechsel, wie er bisher gedacht wurde, kaum möglich sein. Das soll die anderen Beteiligten, dazu gehören Gewerkschaften, die linke Zivilgesellschaft und nicht zuletzt Linkspartei und Grüne, nicht aus der Pflicht entlassen, die ihnen bei einem Projekt gesellschaftlicher Veränderung zukommt. Aber die Frage steht: Wer ist künftig hierzulande der Träger sozialdemokratischer Politik?

Fünf Punkte beziehungsweise Fragestellungen könnten als Charakteristika des Übergangs in die fünfte Phase des Crossover genannt werden.

Erstens: Eine gesellschaftliche Wechselstimmung für eine linksreformerische Wende, eine die Milieus übergreifende Solidarität, eine vielfältige Bewegung von unten, in den Betrieben und Stadtteilen, eine lebendige Selbstermächtigung für eine andere Republik - all das ist bisher ausgeblieben. Dies wirft die Frage auf, welche Rolle man einer gesellschaftlichen Mehrheit beimisst und in welchem Verhältnis diese zu parlamentarischen Mehrheiten steht.

Zweitens: Es könnte sein, dass die Debatte über eine linksreformerische Möglichkeit die Marke »Rot-Rot-Grün« in einem anderen, neuen Sinne betrachten müsste - nicht mehr vor allem als Kombination von drei existierenden Parteien. Dabei würden den einzelnen Farben zentrale Ansprüche zugeordnet werden (Thomas Seibert): Das eine Rot steht für den Anspruch, auf demokratischer Grundlage Veränderungen im Hier und Heute anzugehen, welche die Lebensbedingungen einer Mehrheit verbessern; das zweite Rot steht für den Anspruch, dennoch nicht bei der »Verschönerung« des Kapitalismus stehen zu bleiben, sondern die politische Praxis unter den von ihm gesetzten politischen Bedingungen zugleich über ihn hinaus zu entwickeln. Das Grün wiederum steht für die ökologischen, lebensweltlichen Traditionslinien und für die politische Erkenntnis, dass nicht alles, was überwunden gehört, zugleich mit dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit erklärt werden kann. Es ginge hierbei also um Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, des Antirassismus und so fort.

Drittens: Wir haben es womöglich mit einem nicht mehr reparablen Auseinanderklaffen von »parteipolitischer Form« und »politischer Substanz« zu tun. Nicht zwischen den existierenden Parteien und Organisationen liegen die zentralen Differenzen, sondern die Konfliktlinien verlaufen quer dazu. Da aber die Parteien und Organisationen als Ganzes agieren, in ihnen dabei Logiken wirken wie Fraktionszwang und Konfliktangst, werden relevante politische Kreise in ihnen blockiert, stimmlos gemacht, wenn man so will: deaktiviert. Es ist ja nicht so, dass in der SPD niemand für eine andere Griechenlandpolitik gewesen wäre. Aber: Die SPD als Partei hat nicht so agiert wie breite Teile der Basis oder prominente Exponenten, die sich für eine solidarische europäische Lösung eingesetzt haben.

Man braucht da nicht bei der SPD stehen zu bleiben: Es gibt ein Lager der Kritik an Austerität, der europäischen Idee, des keynesianisch-ökologisch inspirierten ökonomischen Denkens, das eine bestimmte Haltung zum Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus hat - dieses Lager kennt keine Parteigrenzen, man findet Vertreter überall. Auf der anderen Seite stehen - wenn man beim Beispiel der Griechenlandfrage bleibt - Wolfgang Schäuble, die Idee einer autoritären EU der Regeln und der Austerität, eines deutsch-dominierten Europas. Auch hier finden sich Vertreter lagerübergreifend. Was bedeutet das mittelfristig für die Formulierung und Umsetzung linksreformerischer Strategien?

Viertens: Dies gilt auch mit Blick auf die Gewerkschaften, die für eine linksrefomerische Politik von zentraler Bedeutung sind. In den Beschäftigtenorganisationen haben Auseinandersetzungen etwa um die Einschränkung des Streikrechts auf dem Wege des Tarifeinheitsgesetzes, aber auch über die Krisenpolitik Licht auf den existierenden Graben zwischen denen geworfen, die auf Umverteilung auf Basis eines exportorientierten Modells setzen, das mit der Akzeptanz von Entsolidarisierung innerhalb der Klasse einhergeht, und jenen, die auf einen Modus der Stärkung von Binnennachfrage und einer Ausweitung des Öffentlichen orientieren. Die Frage ist, ob die beiden im Grund gegeneinander gerichteten Positionen im Rahmen einer demokratischen Klassenpolitik wieder verbunden werden können.

Fünftens: Es gehört wohl zu den charakteristischen Merkmalen der hier behaupteten fünften Phase des Crossover, dass landespolitische Regierungsbündnisse weit autonomer gegenüber bundespolitischen Konstellationen agieren müssen, als man das bisher wahrnehmen wollte. Zum bundespolitischen Traditionsvorrat gehört unter anderem, dass auf Landesebene vorbereitet wird, was auf Bundesebene später möglich sein würde. Auch das Ineinander-Verschränktsein von landespolitischen Mehrheiten und Bundespolitik über den Bundesrat wurde immer wieder angesprochen. Es könnte sein, dass diese Verbindung weit weniger eng ist - was einerseits mehr Bewegungsspielraum landespolitischer Akteure nach sich ziehen könnte, aber auch eine größere »Einsamkeit«. Rot-Rot-Grün in Thüringen ist die Landesregierung, die am stärksten unter dem Eindruck dieser neuen Bedingungen in der fünften Phase des Crossovers steht.

Der Übergang in die neue, fünfte Phase des Crossover ist noch nicht abgeschlossen. Es steht offen, was sich in der kommenden Zeit in der linksreformerischen Debatte als prägend erweist. Es wird aber weniger um die Konkurrenz verschiedener Ansätze gehen dürfen als um deren wirksame Kombination: parlamentarische Politik und das Wirken als »gesellschaftliche Partei«, soziale Kämpfe sowie Revitalisierung gewerkschaftlicher Kräfte und die Fortsetzung des Ringens um Mehrheiten in bestehenden Parteien. Und bei allem immer auch die Portion Mut, gegebenenfalls den nötigen Schritt über das bisher Bestehende und die eingeübten Grenzen des Denkens hinauszugehen.

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