nd-aktuell.de / 10.09.2015 / Kommentare

Von Griechenland lernen

... und das Erreichte verteidigen. Zum Beispiel die Strukturen der Solidarischen Ökonomie. Ein Beitrag zur linken Debatte über SYRIZA und die Alternativen zur Krisenpolitik von Judith Dellheim

Judith Dellheim

Die erneute Offensive der Herrschenden richtet sich auf eine Vertiefung neoliberaler Prinzipien, autoritär und gegen jeden Widerstand. Herausragende Stichworte sind die Freihandelsabkommen TTIP und CETA und die Unterwerfung der griechischen Regierung und von SYRIZA, um jede Alternative in der Europäischen Union (EU) unmöglich zu machen. Gerade in Griechenland wurden insbesondere in den letzten Jahren breite Solidarstrukturen aufgebaut, die nicht allein der wechselseitigen Hilfe dienen, sondern auch Orte der zivilgesellschaftlichen politischen Organisierung sind. (1) Dazu gehören Praxen starker solidarischer Ökonomie, jenseits gesellschaftlicher Nischen. In Griechenland, in Deutschland und in der EU haben soziale Bewegungen und linke Organisationen für den Herbst 2015 Zusammenkünfte und Aktionen geplant (2), um der neoliberalen Offensive etwas entgegenzusetzen. Griechenland ist der aktuelle Kristallisationspunkt, an dem sich erweisen muss, ob wir in der Lage sind, solidarische Ökonomien aufzubauen und zu verteidigen.

Nach dem Willen der führenden Neoliberalen sollen die Menschen weiter vereinzelt werden – sie sollen mit der Meisterung ihres Alltags beschäftigt sein und sich um ihre persönlichen Belange kümmern. Sie sollen ihre »Beschäftigungsfähigkeit« sichern und damit an »ihren« Standorten die weltweite Konkurrenzfähigkeit der Global Player garantieren. Die Ausweitung der Kontrollapparate soll dann für die »Sicherheit« der Einzelnen sorgen, vor allem für die Sicherheit der Herrschenden in einem Meer wachsender gesellschaftlicher Ungleichheiten. Soziale, ökologische und andere Belange werden einer »marktkonformen Demokratie« untergeordnet. »Wir befinden uns mitten [...] im Schlamassel einer ‹Finanzkrise›, die auch hierzulande die soziale Kluft verstärkt und Debatten über zukunftsfähige Entwicklung und Klimagerechtigkeit ausgebremst hat.« (3)

Solidarität als umkämpfter Begriff

m den sozialen Zusammenhalt in einer immer stärker von Konkurrenz geprägten Marktgesellschaft zu sichern, kommt den Herrschenden der Begriff der Solidarität gerade recht: Die Bessergestellten sollen mit den Armen »solidarisch« sein und für Bedürftige spenden, Wohltätigkeit üben. »Hilfe zur Selbsthilfe« heißt dies in der Entwicklungspolitik, die von den eigenen Wirtschafts- und »Sicherheits-«Interessen ausgeht. Eine solche »Solidarität« soll gesellschaftspolitische Verhältnisse und Hierarchien wahren, soll eigene Machtpositionen ausbauen. Sie soll die Folgen von Vereinzelung und Konkurrenz kontrollierbar halten und ideologisch kitten– »Solidarität« als entwendeter Begriff für eine Politik der Entsolidarisierung im Konsens mit den Herrschenden. Da stört die griechische solidarische Ökonomie mit ihrem gesellschaftsverändernden Anspruch.

»Solidarische Ökonomie heißt wirtschaften, um die Bedürfnisse der Menschen auf Basis freiwilliger Kooperation, Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe zu befriedigen [...]. Sie bildet damit eine Alternative zur konkurrenz- und profitorientierten Wirtschaftsform. Ihre Wurzeln liegen in traditionellen und indigenen gemeinschaftlichen Wirtschaftsweisen (inkl. Allmende-Wirtschaft/Commons) und in der aus christlicher Sozialethik und frühsozialistischen Ansätzen entstandenen Genossenschaftsbewegung. Dazu kamen die Alternative Ökonomie und die Solidaritätsbewegung der 1970er und 80er Jahre.« (4)

Zu fragen wäre, wer »Solidarität« wie versteht und wer warum mit wem freiwillig und ohne Konkurrenz zusammenarbeitet und sich dabei mit den Herrschenden und mit den Machtstrukturen beziehungsweise mit den Machtverhältnissen auseinandersetzt. Wird Solidarität als Absage an Konkurrenz und Egoismus in der Gruppe verstanden oder mehr damit verbunden, nämlich den Schwächsten und Schwächeren in der Gesellschaft zur Seite zu stehen, um gemeinsam mit ihnen ihre gesellschaftliche Position strukturell zu verbessern und damit die Gesellschaft, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nachhaltig zulasten der Herrschenden zu verändern, gesellschaftliche Organisationsformen und staatliche Institutionen in einem weiten Verständnis zu demokratisieren? Wird solidarische Ökonomie vorrangig oder einzig als Angelegenheit jener gesehen, die über das eigene Projekt oder den eigenen Betrieb ihre individuellen und Gruppenprobleme mildern oder lösen wollen, oder wird solidarische Ökonomie mit dem aktiven Eintreten für eine tief greifende Veränderung der gesellschaftlichen Produktions-, Konsumtions- und Machtstrukturen verbunden? Um beide Herangehensweisen voneinander zu unterscheiden, könnte von solidarischer Ökonomie im engen Sinne und von solidarischer Ökonomie im weiten Sinne gesprochen werden.5 Weil es keine fixen Grenzen zwischen beiden gibt, würden die Akteure der solidarischen Ökonomie im weiten Sinne selbstverständlich gefordert sein, in Projekten und in Betrieben der solidarischen Ökonomie im engen Sinne Aktive zum Engagement für eine solidarische Gesellschaft zu gewinnen. Solidarische Ökonomie im weiten Sinne könnte genauer definiert werden als:

  • Kooperation von in einem Betrieb/Projekt wirtschaftenden, sozial gleichen Menschen, die
  • ihre Maschinen, Gebäude, Rohstoffe und Materialien und/oder ihre Wohnung/Mobilität/Konsumtionsmittel selbst verwalten,
  • sich gemeinsam einen Lebensunterhalt/die Versorgung mit konkreten Produkten/Leistungen sichern und
  • die Gesellschaft demokratisch und solidarisch verändern wollen;
  • dabei kommt der Verteidigung, dem Ausbau und der Demokratisierung des Öffentlichen, der Gemeingüter bzw. der Allmende/den Commons ein prioritärer bzw. herausragender Stellenwert zu.

In den sozialen Bewegungen werden Gemeingüter, Commons und Allmende vielfach synonym verwandt. Sie stehen für Ressourcen und Leistungen, die für alle lebensnotwendig sind, wie zum Beispiel die Wasser- und Gesundheitsversorgung, und von denen niemand ausgeschlossen sein darf. (6)

In Europa reichen die Anfänge der kollektiven Selbsthilfe und Allmende-Bewegungen bis zur Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise zurück: Da ist die kollektive, vielfach genossenschaftliche Selbsthilfe kleiner Warenproduzenten gegen die sich durchsetzende kapitalistische Konkurrenz und da ist der Protest gegen die private Einhegung bisher gemeinsam genutzter Naturressourcen (Gemeindeland, Seen, Flüsse, Wälder). Solidarische Ökonomie im engen Sinne wird im Allgemeinen mit Genossenschaften als Unternehmensform oder mit genossenschaftlichen Projekten verbunden, während die Commons-Bewegungen mit dem Protest gegen die Privatisierung von Gemeingütern und mit dem Ringen um ihre (Wieder-)Aneignung gefasst wird. Commons-Bewegungen würden also eher zur solidarischen Ökonomie im weiten Sinne gehören.

Die große Herausforderung: Plan C für Griechenland

Seit der »Vereinbarung« eines dritten sogenannten Rettungspakets für Griechenland am 13. Juli 2015 (bei der Alexis Tsipras den Forderungen der Gläubiger weitgehend nachgab und damit gerade einmal eine Katastrophenbegrenzung erreichen konnte) wird die Debatte zur solidarischen Ökonomie im hier bestimmten, weiten Sinne unter den Linken in und außerhalb Griechenlands in einer wachsenden Haltung der politischen Defensive geführt. Ungeachtet der konkreten Bewertung des Ereignisses wird den Linken in Griechenland nun (von mehreren Seiten) ein Plan C vorgeschlagen (Plan A: in der Wirtschafts- und Währungsunion bleiben und Kompromisse mit den Gläubigern suchen, Plan B: Grexit). Dezentrale Kooperationen und Kooperativen, lokale und regionale Währungen und auf ihnen beruhende Lokal- und Regionalentwicklung werden als Grundlagen einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie für Griechenland gesehen. Zu fragen wäre: Was gibt es bereits in Sachen Solidarstrukturen beziehungsweise solidarischer Ökonomie in Griechenland und wie können ihre Akteure wirksam unterstützt werden? Was sind die Grenzen derartiger Praxen?

Grenzen meint hier zum einen die ökonomischen Schranken: Was können – in der gebeutelten Wirtschaft des EU-Mitglieds Griechenland – dezentrale Solidarstrukturen für die Versorgung der Bevölkerung, für die volkswirtschaftliche Reproduktion und für eine notwendige sozialökologische Transformation tatsächlich leisten? Grenzen meint zum anderen die subjektiven Bedingungen und die individuelle Verfasstheit der Akteure. Schließlich leben Solidarstrukturen wesentlich davon, dass Menschen, die ihren Alltag ohne diese Strukturen organisieren könnten, jenen helfen, die derartige Strukturen zum Überleben brauchen. Sollen die HelferInnen weiterhin Solidarität erweisen und organisieren können, muss ihnen ihr Alltag das auch gestatten. Was aber können die Menschen verkraften, die seit Jahren unter extremen Bedingungen leben und politisch aktiv sind; erst recht seit ihrer politischen Niederlage vom 13. Juli mit all ihren (noch nicht vollständig absehbaren) Folgen?

Die ökonomischen Grenzen eines Plans C sind dramatisch: Griechenlands Wirtschaft ist klein und zerrüttet, schuldenüberladen und extrem importabhängig. Die politischen Machtverhältnisse in der EU setzen dem konkreten Handeln der Linken enge Grenzen. Daher ist es leider ganz klar: Plan C vermag es nicht, den Alltag der Bevölkerungsmehrheit in der komplexen Wirtschaftskrise zu meistern. Es braucht mehr.

Der Wirtschaftswissenschaftler und SYRIZA-Aktivist Theodoros Paraskevopoulos bezeichnet die »Vereinbarung« als »schmerzhaften Kompromiss« mit den Gläubigern und sagt, »die zu diskutierende Frage« laute, wie dadurch erlangter Raum und gewonnene Zeit genutzt werden können: »Wie wird die andersartige, linke administrative Reform ausgestaltet sein, wie wird sie die durch korrupte und unterwürfige Regierungen ausgelieferte und aufgelöste Gewerkschaftsbewegung wiederherstellen, wie werden die Menschen ihr Wort in den örtlichen Kommunalverwaltungen geltend machen, wie und in welchem Maße werden die Erfahrungen der glanzvollen Solidaritätsbewegung, sogar ohne jede Mittel der Sozialbehörden, in den Wiederaufbau integriert werden, wie wird die Neuformierung der Produktion (dennoch) nicht die Angelegenheit der gewinnorientierten Absichten eines jeden Gelegenheitsdiebes, sondern Angelegenheit der Demokratie sein? Wie werden die harten Rentenparagrafen ausgeglichen? Wie werden sich (trotz alledem) die Wirtschafts-, Steuer-, Sozial-, Bildungs- und Kulturpolitik mit jener von Syriza angekündigten Parteilichkeit zugunsten der einfachen Leute auszeichnen? Die zentrale Herausforderung ist, ob Syriza auf diesem schmalen Pfad eigene Lösungen findet.« (7)

Ob die Herausforderung gemeistert wird, hängt wesentlich davon ab, inwiefern es SYRIZA und den Linken in Griechenland gelingt, den Erhalt und die Stärkung der Solidarstrukturen, der solidarischen Ökonomie im engen und im weiten Sinne, die Verteidigung und Demokratisierung des Öffentlichen, der Gemeingüter/Commons zu einem gemeinsamen Schwerpunkt zu machen – zu einem Kristallisationspunkt der Gleichgesinnten in den verschiedenen politischen und sozialen Zusammenhängen, in ihren unterschiedlichen Funktionen und Verantwortlichkeiten. Wechselseitig damit verbunden ist die Frage nach der Zukunft von SYRIZA.

Begreifen dies die Linken in den anderen EU-Mitgliedsländern und unterstützen sie die griechischen Solidarstrukturen, die solidarische Ökonomie (im weiten Sinne)? Helfen sie Projekten oder Betrieben der solidarischen Ökonomie im eigenen Land dabei, Partnerprojekte oder -betriebe in Griechenland zu finden? Eine solche Vernetzung ist wichtiger als politische Ratschläge von »Allwissenden«, die oft die griechische solidarische Ökonomie mit ihrer antifaschistischen demokratischen Tradition gar nicht kennen.

Die Praxis der Solidarität

Zu den Solidarstrukturen in Griechenland gehören heute Hunderte von Projekten. Insbesondere in den Jahren 2011 und 2012 haben griechische Aktive Erfahrungen der trans- und internationalen Bewegung genutzt und »Wir-zahlen-nicht-Bewegungen« geschaffen. »Wir zahlen nicht« bezog und bezieht sich auf sozial ungerechte Steuern, Tarife und Gebühren. Dass im Mai 2015 die zahlreichen und vielfältigen Solidarprojekte zusammengekommen sind,8 darf als politischer Erfolg gewertet werden. Zuvor haben die »Ohne-Zwischenhändler-Initiativen«, die für die Versorgung der Armen mit Nahrungsmitteln hochrelevant sind, eine landesweite Koordinierung geschaffen. Im Frühjahr 2014 haben sich die über 100 Solidaritätsgruppen zur Nahrungsmittelversorgung ausgetauscht. Die circa 40 solidarischen Gesundheitszentren und Kliniken hatten bereits im November 2013 eine »Charta der gemeinsamen Prinzipien« verabschiedet.

Die selbstorganisierten Projekte finden sich zusammen, um die Selbsthilfe der Betroffenen und Hilfen für Bedürftige zu qualifizieren und mit gemeinsamen politischen Forderungen, Aktionen und Strategiearbeit zu verknüpfen. Sie verstehen sich also mehrheitlich nicht als karitative Einrichtungen oder als Ersatz für den staatlichen öffentlichen Sektor, sondern als Praxen emanzipativ-solidarischer Kultur, wo Menschen ihren Alltag verändern, sich vernetzen, gemeinsam lernen, sich Kompetenzen aneignen, um auch den gesellschaftlichen Alltag und so die Gesellschaft solidarisch zu verändern.

Das Spektrum der Themen und Aktivitäten der Solidarprojekte ist breit: Nahrungsmittelherstellung und -versorgung, gesundheitliche Betreuung, Beratungsleistungen vielfältiger Art, Protest und Verhinderung von Zwangsumzügen wie -räumungen und Stromabsperrungen, Nachbarschaftshilfe mit und ohne Tauschringen, Hilfe für Flüchtlinge, Hilfe für Obdachlose, Nachhilfeunterricht, Musikunterricht, künstlerische Selbstbetätigung und Kulturangebote, Betriebsbesetzungen und Arbeiterselbstverwaltung oder Anti-Privatisierungs-Initiativen. In den Projekten selbst soll möglichst kein Geld zirkulieren.

Ein Beispiel: In den solidarischen Gesundheitspraxen, zu denen die »Klinik der Solidarität« in Thessaloniki und das soziale Gesundheitszentrum Ellinikon in Athen gehören, behandeln Fachleute anonym und unentgeltlich. Kein bedürftiger Mensch wird von den ehrenamtlich Tätigen abgewiesen. Die Pharmazeutika sind meist gespendet oder mit Spenden gekauft. Sie werden teilweise auch an öffentliche Krankenhäuser gegeben, deren Beschäftigte vielfach in ihrer Freizeit in den solidarischen Praxen arbeiten. Die Kooperationsbeziehungen sind vielgestaltig und jede Praxis ist einzigartig. (9)

Die Gesundheitszentren und solidarischen Apotheken sind oft mit anderen Projekten der sozialen Arbeit (Sprachunterricht, Hilfen für Flüchtlinge) und der solidarischen Ökonomie vernetzt. So sorgen insbesondere Agrar- und Konsumgenossenschaften für die Versorgung der GesundheitsarbeiterInnen und PatientInnen mit lokal und regional produzierten Lebensmitteln, aber auch mit Kräutern und anderen Naturprodukten für die alternative Medizin. Betroffeneninitiativen, Solidaritätsgruppen für Flüchtlinge und MigrantInnen, Berufs- und Gewerkschaftsorganisationen kooperieren mit sehr verschiedenen Solidarprojekten. Insbesondere haben GewerkschafterInnen viel für die Vernetzung von Betroffenen und sozial Engagierten geleistet. Sie haben Alleinerziehende, arme Eltern, LehrerInnen und ErzieherInnen mit den solidarischen Gesundheitseinrichtungen zusammengebracht, zur Kooperation ermutigt. Dieses Miteinander ist unabdingbar, um den Gebäudebetrieb – etwa die Strom- und Wasserversorgung der Gesundheitspraxen – zu sichern. Auch von im Gesundheitswesen Tätigen in anderen Ländern kommt Hilfe: Sie klären über Zustände im griechischen Gesundheitswesen und über die solidarischen Gesundheitspraxen auf, sammeln Geld- und Sachspenden. Im Ausland lebende griechische Fachleute bieten unentgeltliche Mitarbeit während des Urlaubs an.

Gezielte hierarchiefreie Kooperation unter den Aktiven, transparente kollektive Entscheidungen, die gemeinsame Nutzung von Wissen, Diagnose, Räumen, Instrumenten und Hilfsmitteln, das andere MedizinerIn-PatientIn-Verhältnis bewirken eine enorme Reduzierung von Kosten, stofflichem und energetischem Verbrauch sowie von Arbeitsaufwand im Vergleich zum traditionellen Alltag. Menschen eignen sich neue Kenntnisse, Fähigkeiten, Kooperationsbeziehungen und Erfahrungen an. Das ist keine Romantisierung, das sind Bedingungen für erfolgreichen Widerstand gegen die anhaltende Kürzungs- und Privatisierungspolitik und für erfolgreiche Arbeit an gesellschaftlichen Alternativen. (10)

Dieser Widerstand und diese Arbeit sind dringlich. Die linke Regierung hatte vor der »Vereinbarung« vom 13. Juli 2015 Gesetze und Maßnahmen gegen Hunger und Unterernährung, gegen Energiearmut und Bildungsmisere, zur Mietförderung, zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung sowie zur Wiedereinführung der Grundrente beschlossen. Nach dem Willen der Gläubiger sollen diese Gesetze und Maßnahmen wieder verschwinden. Nach dem Willen der Gläubiger sollen auch die Solidarstrukturen, die solidarische Ökonomie im weiten Sinne (etwa die Commons-Bewegungen) verschwinden. Bestenfalls soll solidarische Ökonomie im engen Sinne als Steigbügelhalter für neue neoliberale Finanzialisierung, Kommerzialisierung und Privatisierung dienen. Das Motto der Herrschenden ist: Verschwinden soll, was die weitere neoliberale Durchsetzung der Marktgesellschaft stört. Bleiben darf, was weiteres »Sparen« und die weitere Absenkung von demokratischen und sozialen Standards ermöglicht, ohne dass offene unkontrollierbare Hunger- und Verzweiflungsrevolten ausbrechen.

Damit sich die Gläubiger beziehungsweise die in Deutschland, in der EU und global Herrschenden »geschnitten haben«, muss Syriza das gemeinsame politische Projekt und den über alle taktischen Differenzen hinweg tragfähigen inneren Konsens neu finden. Zugleich müssen die griechische Solidaritätsbewegung und die demokratische Solidaritätsbewegung mit Griechenland in Europa einen neuen Aufschwung erfahren. »Entweder hält [...] die Einheit der Bewegung – dann wird es möglich sein, eine Dialektik von Anwendung und Widerstand in der Umsetzung der Vereinbarungen in Gang zu setzen. Oder sie zerbricht – womit dann die Hoffnung begraben wäre, wie sie in Griechenland, in Europa und sogar in der Welt aufgekommen war.« (11)

Und nun? Patenschaften für Projekte

Im Jahr 2012 hat SYRIZA das soziale Netzwerk und den Fonds Solidarity4all (»Solidarität für alle«) gegründet. Solidarity4all will die Solidarstrukturen, die solidarische Ökonomie im weiten Sinne unterstützen und ausbauen – über ehrenamtliche Arbeit, eingeworbene Spenden und Ressourcen, die zur Verfügung gestellt werden. Dies bedeutet insbesondere die Mitwirkung der SYRIZA-Mitglieder in den Projekten, ihre Vernetzungsarbeit, die Bereitstellung von Kommunikationstechnik, Räumen und Logistik, Finanzen oder die Organisation internationaler Solidaritätskampagnen mit der griechischen Bevölkerung. Bei alldem spielen linke KommunalpolitikerInnen eine Schlüsselrolle. (12) Die Solidaritätsstrukturen entscheiden selbst mit. Die Autonomie der Bewegung bleibt gewahrt. Ideen und Pläne gibt es viele, etwa zur Arbeit von Energiegenossenschaften, insbesondere auf den bewohnten Inseln. Initiativen auf Sifnos, Rhodos und Kreta wollen diese energieautark machen und die Vorzüge der dezentral produzierten und genutzten Energie zeigen, schöpferische NachmacherInnen finden. Sie verweisen auf den »sparbedingten« Stillstand bei der Energiewende, werben für Crowdfunding für Solaranlagen über die Webseite Indiegogo (13) und hoffen auf SYRIZAs Ökoflügel. (14)

In Leeds motivieren Aktive zu Twinnings (Zwillingsgeschwisterschaft): Britische Projekte der solidarischen Ökonomie sollen ermutigt werden, sich Partner in der griechischen solidarischen Ökonomie zu suchen und diese direkt zu unterstützen. (15) Medico international und Ärzte ohne Grenzen engagieren sich für Flüchtlingshilfen in Griechenland. ÄrztInnen, Solidaritätsgruppen in Deutschland und in anderen Ländern sammeln Spenden für Lieferungen von Pharmazeutika, medizinischen und anderen Hilfen an die griechischen Solidarstrukturen.

Um diese dringliche humanistische Unterstützung mit der Stärkung der solidarisch-emanzipativen Kräfte in der EU zu verknüpfen, müssen die Verteidigung und Mehrung der politischen Handlungsmöglichkeiten der griechischen Linken, auch und insbesondere in den Gremien und Verwaltungen, den gemeinsamen Fokus bilden. Das bedeutet einzutreten für sozial gerechte Schuldenstreichungen, für deutsche Reparationszahlungen für die im Zweiten Weltkrieg eingetriebenen Tribute und die von der deutschen Besatzung in Griechenland verübten Morde und Verwüstungen, für den Transfer der Gläubiger-Gewinne aus der »Griechenland-Krise« (insbesondere Zinsgewinne) an Griechenland. Das bedeutet zugleich die von den Herrschenden gewollte platte, wortwörtliche Umsetzung der Vereinbarung vom 13. Juli 2015 zu verhindern. Das ist die Bedingung dafür, dass Öffentliches erhalten und demokratisiert, demokratische, soziale und ökologische Standards verteidigt und gehoben werden können. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass die lokalen und regionalen Ressourcen für eine solidarische Erneuerung und Transformation der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft erschlossen und zur Wirkung gebracht werden können. Es geht jetzt um die elementare Grundlage dafür, dass Menschen und ihre Institutionen solidarisch und demokratisch handeln können. »Der Unterschied, den [...] SYRIZA machen kann, liegt in der Partizipation.« (16) Gelingt es den emanzipatorischen Kräften nicht, die solidarische Ökonomie in Griechenland zu verteidigen und auszuweiten, werden auch die Möglichkeitsräume für solche Praxen in der EU insgesamt immer enger.

Judith Dellheim ist Mitarbeiterin des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ihr Text erschien zuerst als Standpunkte-Papier der Rosa-Luxemburg-Stiftung

1 Vgl. Candeias, Mario/Völpel, Eva: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg 2014.

2 Vgl. Solikon2015 – Kongress Solidarische Ökonomie und Transformation, 10.– 13.9.2015, TU Berlin, unter: www.solikon2015.org/de.

3 Konzept Solikon2015, unter: www.solikon2015.org/de/konzept-solikon2015.

4 Ebd.

5 Vgl. Dellheim, Judith: Solidarisch wirtschaften, um eine solidarische Gesellschaft zu ermöglichen, 2013, unter: www.academia.edu/2507314/Solidarisch_wirtschaften_um_eine_solidarische_Gesellschaft_zu_erm%C3%B6glichen und Dellheim, Judith: Ein (weiteres) Diskussionsangebot zur Solidarischen Ökonomie, 27.3.2012, unter: http://ifg.rosalux.de/2012/03/27/ein-weite-res-diskussionsangebot-zur-solidarischen-okonomie/.

6 Es gehört zu den Vorzügen des Solikon2015-Konzepts, keinen Gegensatz zwischen der Bewegung der solidarischen Ökonomie und den Commons/Gemeingüter-Bewegungen zu konstruieren. Das ist leider nicht selbstverständlich.

7 Paraskevopoulos, Theodoros: Raum, Zeit – und Gefahr. Gibt es ein Leben nach dem Kompromiss von Brüssel?, in: Deutsch-Europa gegen SYRIZA # This Is A Coup, Dossier der Tageszeitung neues deutschland, Berlin 2015, S. 26–27.

8 Das Treffen der Projekte sollte vor allem Kooperationsmöglichkeiten untereinander, mit dem öffentlichen Sektor, mit den Linken in den Verwaltungen diskutieren, organisieren beziehungsweise helfen, sie wirksamer zu gestalten.

9 Vgl. solidarity4all: Solidarität mit Griechenland. Hoffnung schaffen gegen Angst und Zerstörung, eine Beilage des Netzwerks www.solidarity4all.gr, unterstützt von der Tageszeitung neues deutschland, 2015, S. 8–9.

10 Dellheim, Judith: Commons und die Kliniken der Solidarität, in: Atlas der Globalisierung von Le Monde Diplomatique, Weniger wird mehr, Berlin 2015, S. 150–152.

11 Balibar, Etienne/Mezzadra, Sandro/Wolf, Frieder Otto: Das Dilemma von SYRIZA. Der »lange Marsch« für ein demokratisches und solidarisches Europa ist nicht am 13. Juli in Brüssel zu Ende gekommen, in: Deutsch-Europa gegen SYRIZA # This Is A Coup, Dossier der Tageszeitung neues neutschland, Berlin 2015, S. 54–55.

12 Vgl. solidarity4all.

13 Vgl. Stefan, Anke: Mit der Sonne aus der Krise. Greenpeace Griechenland sammelt Geld für Photovoltaik- Anlagen, in: neues deutschland, 8./9.8.2015, S. 8.

14 Vgl. Mihai, Silviu: Sonne und Wind in der Warteschleife. Das Projekt einer dezentralen und sozial nachhaltigen Energiewende kann Griechenland nur umsetzen, wenn sich die Wirtschaft des Landes erholt, in: Neue Energie 7/2015, S. 62–65.

15 Vgl. Plan C: Plan C Leeds – Solidarity with Greece: Twinning Against Austerity, Beitrag vom 22.7.2015, unter: www.weareplanc.org/event/plan-c-leeds-solidarity-with-greece-twinning-against-austerity/

16 Paraskevopoulos: Raum, Zeit – und Gefahr, S. 27.