Alle Lust will Ewigkeit

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.
Alle Lust will Ewigkeit

Der postdemokratische Kapitalismus verlangt viel von den Menschen: Ständig müssen sie Grenzen neu ausloten, Spitzenleistungen abrufen, sogar in der Freizeit dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen und bei all dem immerzu belastbar, flexibel und begeisterungsfähig bleiben. Ihr Leben ist dadurch rasant, entgrenzt, manisch; dementsprechend ist auch ihr Beziehungsstatus meist »kompliziert«: Sie lieben kurz und heftig, aber auch vorläufig und unbeständig.

Dabei geschieht das keineswegs freiwillig. In der Liebespraxis der freien Menschen scheint auf, wie sie sich mühen, ihre Liebe als Bastion des Widerstands zu erhalten. Sie heiraten noch immer eifrig in diesen flüchtigen Zeiten, auch wenn ein genauer Blick die unter dem Brautkleid angespannt nach innen stehenden Füße zeigt, die den Einbruch des Prekären ins auf ewig versprochene Glück offenbaren. Sie wollen auch weiterhin an ungewöhnlichen Orten Sex haben, auch wenn es letztlich doch der nach außen materiellen Wohlstand signalisierende Mercedes ist, in dem der Mann seiner Liebsten den rosafarbenen BH vom Leib reißt.

Denn im Alltag sehen die Leute ihre eigenen Ansprüche an die Liebe ständig auf die Probe gestellt: Sie wollen eine besondere Zweisamkeit performen, können sich aber nicht frei machen von fremdbestimmten Rollenklischees, die sich an den Mechanismen der freien Marktwirtschaft orientieren. Im Zeitalter der Beschleunigung ist die Liebe darum eine potenziell hinter jeder Ecke lauernde Möglichkeit, mit einem beliebigen Menschen Sex zu haben. Denn Sex ist heute Liebe minus Zeit.

Also versuchen die Menschen, ihre Liebe zu zeigen, indem sie den »schmutzigen« Sex in ihren soliden Haushalt integrieren. Eine Papaya avanciert zum verspielten Symbol des weiblichen Geschlechts, der verruchten Halsfessel und den luststeigernden Liebeskugeln wollen sie einen ähnlich ritualisierten Platz im Leben gewähren wie dem Kochen am verdreckten Herd und dem Waschen stinkender Liebestöter. Glücklich werden sie dabei nicht. Denn sie fliehen im Liebestaumel vor dem Kapitalismus in eine Privatheit, die bereits kulturell kapitalisiert war, bevor die Menschen in ihr einen Zufluchtsort suchten.

»Alle Lust will Ewigkeit«: Wie recht Friedrich Nietzsche mit diesem Satz hat, zeigt sich heute in dem das Sexuelle zelebrierenden Gegenentwurf zur Durchschnittsbeziehung, in den viele Menschen ihre Liebe überführen wollen. Sie setzen sich als freie Individuen in Beziehung zur potenziell unendlichen Zahl möglicher Liebespartner - und landen am Ende doch bei der Vernunftsehe, weil die Freiheit, die Vereinzelung, die Abwesenheit kollektiver Solidarität sie gezwungen haben, ihren Partner nicht nach Leidenschaft auszuwählen, sondern nach rationalen Kriterien. Eigentlich wollen sie nur einen Gefährten, der sie vor der Einsamkeit in dieser Gesellschaft schützt. Weil die Partnerwahl im liberalen Kapitalismus zur Suche nach dem Meist-Erregenden in einem hochgradig wettbewerbsorientierten Markt geworden ist, merken die Menschen nicht, dass sich ihr Begehren auf diese Weise niemals darauf richten kann, diese einsame Gesellschaft zu überwinden.

Alle Lust will Ewigkeit
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