Wundern, bis die Hüllen fallen

Die neue »Wunderkammer« im Chamäleon macht ihrem Titel Ehre

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Vieles ist neu an diesem Abend im Chamäleon. Zum einen wurde aus denkmalschützerischen Gründen das hundertjährige Parkett saniert, zum anderen stehen die bislang ungenutzten Balkone nun als Exquisitplätze mit Blick über den Jugendstilsaal zur Verfügung. Mehrere edle finanzielle Unterstützer hatte dieser Kraftakt. Neu ist vor allem auch, was über die Bühne dieses dem Neuen Zirkus verschriebenen Etablissements geht - und das im doppelten Sinn. Denn bereits 2010 gastierte C!rca, jene innovative Truppe aus dem australischen Brisbane, im Theater der Hackeschen Höfe. Ihr Programm »Wunderkammer« haben sie seither fortentwickelt und mit fast komplett neuer Mannschaft bestückt. Hinein fließen die Erfahrungen weltweiter Tourneen, auch in Opern- und Theaterproduktionen, sogar mit mehreren Truppen gleichzeitig - ein Hauch von Cirque du Soleil weht da mit. Wieder ist es Regisseur Yaron Lifschitz darum gegangen, Genregrenzen zu überwinden und das, was das »alte« Varieté in Einzelnummern reihte, zu einem Ganzen durchzukomponieren. Und das ist erneut auf nachdrückliche, dabei höchst unterhaltsame Weise gelungen.

Wer lauthals Klamauk erwartet, sieht sich angenehm überrascht. Dezent stellen sich die sieben Darsteller der »Wunderkammer« vor, ehe Lisa Eckert beinah dramatisch mit ihrem Cyr Wheel, einem silbrigen Reifen, tanzt: adagiohaft und im Bikini. Mit gleichem Geschmack sind viele der weiteren knapp 20 Beiträge gehalten und ineinander verwoben. Erlesene Musik begleitet sie, von Bachs »Kunst der Fuge« über Arvo Pärts »Fratres« bis zu David Bowies »Heroes« und den Einstürzenden Neubauten. Schwarz ausgeschlagen ist die Bühne, illuminiert mit wenigen Neonröhren; auch die körpernahen Kostüme weisen nur Schwarz und dunkles Rot auf. In dieser vornehmen Kammer tummeln sich Akrobaten von bemerkenswerter Vielseitigkeit. So ist der junge Jarred Dewey nicht nur ein androgyner Adonis von Modellproportion, wenn er kokett seinen Stufenrock abwickelt. Im Weiteren ranken sich in malerischer Gruppierung gleich drei Partnerinnen um seinen muskulösen Körper, lassen im Zwei-Frau-Hoch die Frauen sein T-Shirt nach oben wandern. Auf dem Trapez entblättert er sich waghalsig in der Pobalance, auf dem Boden zeigt er kontorsionistisches Können, trägt in der Brücke eine Frau auf dem Becken im Handstand oder lenkt seinen Körper auf weiblichen Knien aus.

Dem stehen seine Kollegen in nichts nach. Sie verblüffen immer wieder mit origineller Partnerarbeit voller äquilibristischer Finessen, riskanter Zuwürfe, wilder Schleudern, ungewöhnlicher Abgänge. Oft laufen verschiedene Aktionen parallel, die dem jeweiligen Hauptakt jedoch nicht die Schau stehlen. Hand-auf-Hand, Hand-auf-Kopf, Fuß-auf-Kopf, bisweilen mit der Frau als »Untermann«, beweisen sie souveräne Beherrschung akrobatischer Elemente sowie Eingestimmtsein aufeinander, dies stets leicht, locker und mit offensichtlichem Spaß am Spiel mit dem Körper. Den hat etwa auch Conor Neall bei seinem tänzerischen, beinah zärtlichen Dialog mit dem »Partner« Chinesischer Mast. Was er hierbei, oft freihändig, scheinbar mühelos an riskanten Tricks und rasanten Wechseln absolviert, stangauf, stangab, ist der Glanzpunkt des ersten Teils. Der endet in einer furiosen Hula-Hoop-Präsentation mit gefühlten 20 Reifen. Dass zwischendrin immer wieder Comedy triumphiert, ob bei Flic-Kaskaden oder dem Stepp auf Noppenfolie, beim Kentaur aus drei Leibern, im Kampf mit einem stetig wandernden Spot oder bei der lautbegleiteten, saltogespickten Hebeakrobatik eines Paares, hilft Anspannung auch im Saal lösen.

Der Teil nach der Pause zeigt Äquilibristik am Boden und auf Stützen, auch einarmig und erschwert, wenn sich an den Körper in Balance noch jemand hängt. Scott Grove singt zur Gitarre, ehe sechs Artisten mit atemberaubenden Zuwürfen, Umschleudern und Zweifachsalti der Frauen begeistern. Worin die Show des so sympathischen Septetts mit der demonstrativ sexy Ausstrahlung kulminiert, sieht man besser selbst.

Bis 21.2., Chamäleon, Rosenthaler Straße 40/41, Mitte, Kartentelefon: 400 05 90, www.chamaeleonberlin.com

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