Fremde Welten

Ulla Lenze zwischen Gegensätzen und Parallelen

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Parallelgeschichten und Parallelwelten. Während die junge Künstlerin Holle in Istanbul an der Seite ihres türkischen Geliebten Celal darüber sinniert, ob sie sich ein Leben mit ihm überhaupt vorstellen kann, arbeitet die für ein Online-Magazin schreibende Journalistin Theresa, die im indischen Mumbai das Appartement von Holle bewohnt, an Reportagen über diese Metropole, über die Armut in den Slums und die zweifelhaften Aktivitäten der Witte Bau AG. Diese ist auch in Istanbul tätig und versteht sich darüber hinaus noch als Mäzen und Sponsor - vornehmlich für junge Künstlerinnen und Künstler. Was entscheidend auf die Figur Wankas zurückgeht, dessen Kunstliebhaberei die Arbeiten Holles aufgefallen sind.

Es entspinnt sich ein kunstvolles Spiel, bei dem Ulla Lenze in ihrem neuen Roman verschiedene Welten und - vor allem - unterschiedliche soziale Lebenswelten aufeinandertreffen lässt. Da ist die um Aufklärung und Engagement bemühte Journalistin, die mit sicherem Gespür nicht nur die Kehrseiten Indiens sieht, sondern auch die Schweinereien deutscher (und anderer europäischer) Unternehmen in der dritten Welt wahrzunehmen versteht. Da ist auf der anderen Seite die junge Künstlerin, getrieben und aufgerieben vom und durch den eigenen künstlerischen Anspruch. Auf den Punkt gebracht: Kunst als Mimesis oder bloßes Spiel. In beider Leben platzt dann der Unternehmer Wanka hinein - mit dem verlockenden Angebot für Holle, nicht nur deren Bilder zu erwerben, sondern im Auftrag der Unternehmensgruppe Witte in Mumbai zu arbeiten und ein Stipendium zu erhalten. Holle, die bei einem Aufenthalt im heimischen Berlin einmal Wanka in Hannover besucht hat, fühlt sich hin- und hergerissen, nicht nur wegen des lukrativen Angebots, sondern auch durch den für sie völlig anderen, fremden Menschen, einen typischen und doch so atypisch agierenden Macht- und Geldmenschen.

Sie hadert mit ihren Gefühlen, wird von Zweifeln geplagt und droht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hat sie sich nun in diesen Mann, der sich selbst mit entsprechenden Offerten dezent zurückhält, gar verliebt oder nicht? Und wie soll es mit der Beziehung zu Celal weitergehen? Was soll aus dem Angebot in Mumbai werden? Dort wieder muss sich Theresa fragen, über die der Leser allerdings weniger erfährt als über Holle, was es überhaupt für einen Sinn hat, sich mit fremden Welten zu beschäftigen, wo doch, »was zu erzählen wäre, … genau das (ist), was den Worten nicht gleichkommt.«

So ist es Ulla Lenze in ihrem Roman gelungen, Gegensätze zu konturieren, Parallelen zu konstruieren und dabei nicht den Fehler zu begehen, sie am Ende wieder einzuebnen oder gar auszugleichen, geschweige denn, Antworten finden zu wollen oder - schlimmstenfalls sogar - eine harmonische Auflösung anzustreben. Die Fragen bleiben weiter bestehen - sie allererst sind es, die Lenzes Erzählung ganz im Sinne von Robert Musils poetologischem Credo herausfordern. Wüsste man bereits die Antworten, dann bedürfte es des Erzählens gar nicht.

Ulla Lenze: Die endlose Stadt. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt. 320 S., geb., 19,90 €.

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