Ein Professor entdeckt Afrika

Jenny Erpenbeck über das Elend der Flüchtlinge

Richard, ein emeritierter Professor für alte Sprachen, muss sich neu einrichten in seinem Leben als Pensionär. Mit Ausnahme von gelegentlichen Treffen mit Freunden ist niemand da, mit dem er reden könnte: Seine Frau ist gestorben, seine junge Geliebte hat ihn verlassen, Kinder hat er keine. Was soll er anfangen mit seiner vielen freien Zeit ohne Vorlesungen und Vorträge?

Doch dann hört er in der Abendschau von hungerstreikenden Flüchtlingen am Roten Rathaus. »Wir werden sichtbar«, hatten sie auf ein Schild geschrieben. Richard hatte sie trotzdem übersehen, als er wenige Stunden zuvor an ihnen vorbeigelaufen ist. Jetzt gefällt ihm, dass sie ihren Namen nicht sagen wollen. Das erinnert den Alt-Philologen an Odysseus, der als »Niemand« den Zyklopen entkam.

Aus einem diffusen Gefühl heraus fühlt sich der Professor aus Ostberlin mit diesen Flüchtlingen verbunden, die seit Wochen in Kreuzberg auf dem Oranienplatz campieren. Durch die Pensionierung sind Gegenwart und Zukunft für ihn unsicher, wie für die Männer aus Afrika, die seit Jahren schon im Transit leben, nirgendwo ankommen dürfen. »Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind.« Und so arbeitet Richard - ganz Wissenschaftler - einen Fragenkatalog aus und macht sich auf den Weg zu der Notunterkunft der Geflüchteten.

Der Erscheinungszeitpunkt von »Gehen, ging, gegangen« wirkt, als hätte es Jenny Erpenbeck als Begleitbuch zur Willkommenskultur konzipiert, mit Blick auf das Deutschland, das sein Herz für die Flüchtenden öffnet. Dabei ist es deutlich vorher entstanden, als noch kaum jemand Notiz von ihnen nahm und sogar Abwehr überwog: »Erpressung«. Die Berliner Autorin füllt die Leerstellen zwischen den damaligen Schlagzeilen von Hungerstreik, Räumung des Protestcamps, Dachbesetzung mit einer eindringlichen Geschichte dieser verlorenen Menschen.

Sie kommen aus Niger, Ghana, Libyen oder Burkina Faso, Länder, die Richard erst im Atlas nachschlagen muss. Zu Hause studiert er den Paragrafendschungel und versteht, dass diese Menschen darin untergehen müssen. Nicht ihre Kriegsschicksale, nicht ihre existenzielle Not interessieren die Behörden, sondern allein, wer die Verwaltung übernimmt. Wir erleben, wie Richard, der bislang eher unpolitisch war, nach und nach erkennt, dass einiges gewaltig schief läuft in Europa im Umgang mit Flüchtlingen und schließlich versucht, individuell zu helfen, wo Gesellschaft, Politik, Behörden Hilfe verweigern. Er besorgt warme Pullover, begleitet die Männer zu Behördenterminen, kauft einem sogar Land in Ghana, für 3000 Euro. Das ist nicht nur altruistisch, die Flüchtlinge geben seinem Leben etwas zurück: Sinn und Struktur. Er verankert sie in seiner bildungsbürgerlichen Welt: Er nennt sie Apoll, Tristan oder »der Blitzeschleuderer«, weil er sich ihre afrikanischen Namen nicht merken kann und weil ihm ihr Schicksal wie das der klassischen Helden erscheint.

Erpenbecks dokumentarischer Roman ist ein verdienstvolles Stück Aufklärung über die kalte Abschiebemaschinerie innerhalb Europas, die über die Bedürfnisse und Rechte dieser Menschen hinweggeht. Meist gelingt es der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin (»Aller Tage Abend«), das politisch Betrachtende zu Prosa werden zu lassen. Ganz ohne Dozieren schafft sie es aber leider nicht. Das Buch enthält einige misslungene Stellen, an denen Richard seine neuesten Einsichten zusammenfasst. »Er versteht«, »er erkennt« Doppelpunkt, werden diese Merksätze eingeleitet.

Stark ist ihr Roman in den reportagehaften Passagen aus dem Flüchtlingsheim, dann, wenn sie Awad, Raschid oder Rufu ihre Geschichte erzählen lässt; sensibel beobachtet, wie sich der Verlust von Familie und Heimat, Blut, Tod, Zerstörung in kleinen Gesten oder unverständlichen Handlungen ausdrücken. Erpenbeck schildert, wie die Männer, die in ihrem alten Leben Schlosser, Koch oder Kamelhirte waren, in Deutschland zum Nichtstun verdammt sind. Junge Männer, die arbeiten wollen, aber hier die Tage mit Schlafen und Warten verbringen. Den Deutschen, kommentiert der Professor trocken, haben die Flüchtlinge hingegen zwölf halbe Stellen verschafft.

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Knaus, 352 S., geb., 19,99 €.

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