nd-aktuell.de / 14.10.2015 / Politik / Seite 3

»Du kannst der Drohne nicht entkommen«

Der Schriftsteller Atef Abu Saif spricht ein Jahr nach dem Krieg über Hoffnung und Schreiben in Gaza

Herr Saif, ich zitiere aus einem Vortrag, den Sie gehalten haben, als Sie für den Arab Fiction Award, den wichtigsten Preis für Literatur aus dem Nahen Osten, nominiert wurden: ››Ohne Hoffnung kann man nicht überleben.‹‹

Wie kann man Hoffnung haben in Gaza?
Wenn man mit dem Tod konfrontiert ist, mit Belagerung, wenn man in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, wenn einem alle Rechte vorenthalten werden, ist die einzige Sache, die dich am Leben hält, die Hoffnung. Ich glaube, die Hoffnung ist eines der Wunder des Lebens. Es ist das Wasser, mit dem man den Baum des Lebens gießt. Während des Krieges ist das Einzige, an dem man sich festhalten kann, der Tag nach dem Krieg. Der Moment, an dem du an das Danach denkst, ist der Moment, in dem du Hoffnung hast.

Was haben Sie am Tag nach dem Krieg gemacht?
Man muss sicherstellen, dass man überlebt. Die Menschen waren in den Straßen und haben das Ende des Krieges gefeiert - wir haben gefeiert. Der Krieg war vorbei. Es war, als würden wir aus einem Albtraum erwachen. Und glauben Sie mir, manchmal verlierst du die Hoffnung und beginnst zu glauben, dieser Krieg wird nicht enden. Aber dann kommt die Hoffnung zurück, wie eine angenehme Brise vom Meer, und sie erfrischt dich und macht dich glücklich.

Derzeit kommen fast täglich neue Nachrichten aus Jerusalem, wo sich die Situation hochschaukelt. Was für Auswirkungen haben die Ereignisse dort auf Gaza?
Gaza ist nicht getrennt vom Rest Palästinas. Obwohl israelische Soldaten an den Grenzen des Gaza-Streifens sind, hält das die jungen Menschen nicht davon ab, an die Grenze zu gehen und die Soldaten zu konfrontieren und ihre Solidarität mit ihrer heiligen Stadt Jerusalem auszudrücken.

Man hört derzeit immer wieder von der dritten Intifada. Wie denkt man in Gaza darüber?
Es ist zu früh, von der dritten Intifada zu sprechen, aber es gibt Parallelen zu beiden vorangegangenen. Man könnte das, was gerade geschieht, als ››Haba‹‹, als ››kleine Intifada‹‹, bezeichnen. Ich glaube, es ist zu früh, um abzuschätzen, wohin dies führt. Derzeit scheint es, als würden Fatah und Hamas sich nicht darauf einigen können, was zu tun ist. Ohne diese Übereinkunft stehen wir vor weiteren Wochen der Eskalation.

Im September hat die UNO einen Bericht veröffentlicht, der voraussagt, dass bis 2020 kein Leben in Gaza mehr möglich sein werde.
Die Situation in Gaza ist extrem schwierig und jedes Jahr wird es schlimmer. Die Wasserqualität und die Gesundheitsvorsorge werden schlechter, dazu kommen Versorgungsengpässe, die durch die Belagerung entstehen. Aber es geht nicht darum, ob man 2020 in Gaza noch leben kann. Sondern: Was sollte getan werden, damit man 2020 in Gaza überhaupt leben kann? In den vergangenen 30 Jahren gab es alle fünf Jahre den gleichen Bericht über das Leben in Gaza. Auf diese Weise befreit sich die internationale Gemeinschaft davon, etwas zu tun. Sie redet nur über Gaza, schreibt Berichte über Gaza. Die Frage ist, was macht die UN, um die Situation in Gaza zu ändern, zu verbessern?

Sie haben eine Sammlung Kurzgeschichten von Autoren aus Gaza zusammengestellt. Sie selber waren dieses Jahr für den Arab Fiction Award nominiert. Wie kommt es, dass Gaza so viele Schriftsteller und Poeten hervorbringt?
Traditionell gibt es in Gaza viele Erzähler und Schreiber von Kurzgeschichten. Schon in den 1940ern, bevor Gaza zum Zentrum für Flüchtlinge wurde, war die Literaturszene lebendig. Kulturelles Leben florierte, es gab Kinos, Theater. Aber mit der Besatzung verfiel das immer mehr. Nach der Besetzung 1967 war es nicht mehr möglich, Gaza zu verlassen, und Schriftsteller konnten keine Romane schreiben, da es keine Verlage mehr gab, die sie publizieren konnten. Es wurden auch kaum noch Gedichte verfasst, da diese traditionell vor Publikum vorgetragen werden, und die Besatzung machte es unmöglich, dies mit heroischen und nationalistischen Gedichten zu tun. Viele Autoren spezialisierten sich deshalb auf das Schreiben von Kurzgeschichten. Diese konnten an die Zeitungen in Jerusalem, Kairo oder Amman geschickt werden. So kam es, dass es viele Kurzgeschichten aus Gaza gibt, und selbst, als wieder angefangen wurde, Romane zu schreiben, in den späten 70ern und 80ern, waren das sehr kurze Romane. Zu dieser Zeit war das Schreiben zugleich Widerstand. Bis heute spielt Literatur eine große Rolle in der Gesellschaft Gazas. Und so wie die Gesellschaft sich verändert, verändert sich auch die Literatur.

Wie veränderte sich Ihr Schreiben während des Krieges?
Als ich anfing, dieses Tagebuch zu führen, machte ich es, um zu überleben. Ich wollte spüren, dass ich etwas tue. Und ich wollte ein Zeugnis hinterlassen für den Fall, dass mir etwas zustoßen würde. Während des Krieges hat man ständig das Gefühl, vielleicht zu sterben. Und manchmal weißt du nicht, ob du lebst oder schon tot bist. Manchmal bin ich aufgewacht und wusste nicht, ob ich noch träume oder schon auf der anderen Seite bin. Schreiben gab mir das Gefühl, am Leben zu sein.

Hatten Sie das Gefühl, eine Aufgabe erfüllen zu müssen?
Wenn man schreibt, muss man aufpassen, dass man nicht in die Falle tappt, Propaganda zu schreiben. Es ist nicht meine Aufgabe, Politik zu machen. Dafür gibt es Politiker, die können über Politik reden. Meine Pflicht ist es, über den Menschen zu schreiben. Das war oft sehr schwierig, ich musste mit mir selbst kämpfen, denn ich wollte nicht über den Kriegsverlauf schreiben - darüber berichten die Medien. Ich schreibe, um über Menschen im Krieg zu berichten.

Wie reagierte Ihr Umfeld auf die Tagebucheinträge?
Meine Freunde, auch die, die kein Englisch können, lieben die Tagebucheinträge - sie hängen sie sich an die Wände. Da stehen ihre Namen im »Guardian« und in der »New York Times«. Sie genießen es, über sich zu lesen. Die Nachrichten vermelden nur ››Zerstörung! Angriff! Raketen!‹‹, und niemand redet über die Geschichten dahinter. Es ist ja so, wenn es heißt ››hundert Palästinenser getötet‹‹, dann bedeutet das, dass auch hundert Träume, hundert Hoffnungen, hundert Liebesgeschichten, hundert Leben, hundert Enttäuschungen, vielleicht hundert Versagen ausgelöscht worden sind.

Der Krieg im Sommer 2014 war der vierte Krieg, den Sie erlebten. Wie hat sich der Krieg verändert?
Mit der zweiten Intifada wurde die Drohne eingeführt, zum Überwachen der Bevölkerung. Jetzt aber hat die Drohne eine zweifache Mission: Überwachen und Angreifen. Und - man weiß nie, mit welcher Mission sie gerade über dir fliegt. Du hörst die Drohne, Tag und Nacht, du kannst ihr nicht entkommen. Die Drohne wird zur Normalität, faktisch zu einem Bürger Gazas. Sie lebt mit dir.

Hat sich seit dem Ende des Krieges in der politischen Ausrichtung der Hamas etwas geändert?
Nach dem Krieg gab es die Einheitsregierung. Deren Mandat war es, Gaza wiederaufzubauen. Die israelische Regierung ließ aber keine Baumaterialien nach Gaza, nicht einmal Zement. Das trägt zur politischen Spaltung bei. Die Einheitsregierung zerfällt. Politisch hat das eine doppelte Funktion: Einerseits will die internationale Gemeinschaft eine funktionierende Regierung. Gleichzeitig will sie aber nicht, dass Hamas teil dieser Regierung ist. Aber die Hamas ist gewählt. Es ist eine sehr komplizierte Situation.

Ich glaube, dass die Lösung wäre, einen palästinensischen Staat zu schaffen, in dem die Palästinenser selbst entscheiden können. Als Israel sich aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen hat, gab es keine Verhandlungen, die palästinensischen Behörden wurden nicht konsultiert. Der Grund: Israel wollte Gaza und das Westjordanland voneinander trennen. Wir brauchen den palästinensischen Staat. Wir haben gezeigt, dass wir fähig sind, Ordnung zu halten. Wir brauchten keinen »Arabischen Frühling«, wir hatten Wahlen. Hamas ist über Wahlen an die Macht gekommen.

Wie denken die Menschen über Ausländer, die nach Gaza kommen?
Die Menschen in Gaza sind sehr gastfreundlich. Journalisten sind wichtig, aber sobald der Krieg vorbei ist, verlassen die Medien Gaza wieder. Diese sind nur dort, wenn es Tod und Zerstörung gibt. Die Menschen in Gaza haben ein Verständnis von der Rolle, die Medien spielen können. Und dafür schätzen sie die Medien. Wir haben auch keine Probleme mit Juden. Wir haben ein Problem mit der Besatzung, mit der Regierung, die uns unsere Zukunft wegnehmen will. Also, wir können auch eine Ein-Staaten-Lösung haben, aber dazu müssen die Israelis überzeugt werden, nicht die Palästinenser.