Argentinien schwenkt nach rechts

Maristella Svampa: Nächste Regierung wird progressive Töne des Kirchnerismus vermissen lassen

  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn man die Namen der aussichtsreichen Kandidaten für die kommende Präsidentschaftswahl hört - Daniel Scioli, Mauricio Macri, Sergio Massa -, dann steht unabhängig vom Ausgang der Wahl ein konservativer Schwenk an.

Schon die Vorwahlen im August haben eine Rechtsentwicklung der politischen Kräfte angezeigt. Die drei genannten Kandidaten haben 80 Prozent der Stimmen erhalten. Der seit zwölf Jahren regierende Kirchnerismus von Néstor Kirchner, Präsident von 2003-2007 und 2010 an einem Herzinfarkt verstorben, und ab 2007 Cristina de Fernández Kirchner, hat erfolgreich den politischen Raum der linken Mitte besetzt. Für die jetzige Wahl war die aktuelle Präsidentin in der Lage, insbesondere um den aussichtsreichen Kandidaten Scioli herum durchaus PolitikerInnen aus ihrem Lager in Schlüsselpositionen zu positionieren. Zu erwarten ist, dass nach den Wahlen die Wirtschaftspolitik der aktuellen Regierung fortgesetzt wird, aber ohne den progressiven Ton des Kirchnerismus.

Scioli wäre also in gewisse Weise die Fortsetzung?

In der Tat. Der Peronismus ist ja in der Lage, Regierungspolitik mit Opposition zu verbinden. Es handelt sich um eine Partei mit einem sehr pragmatischen Profil. So konnte der Peronismus in den 1990er Jahren neoliberal sein, in den vergangenen Jahren nach der dramatischen Krise von 2001 dann deutlich progressiv mit Umverteilungspolitiken und einer sehr weitreichenden Politik der Menschenrechte.

Personell wird die Kontinuität deutlich am Kandidaten des Vizepräsidenten von Scioli, Carlos Zannini. Der ist der aktuellen Präsidentin absolut treu und wird das auch bleiben. Und auch die linke Jugendorganisation hat eigene Kandidaten für das Parlament, den Senat und die wichtige Provinz Buenos Aires.

Welches Resümee ziehen Sie nach zwölf Jahren Kirchnerismus?

Es gab wichtige Veränderungen. Essenziell war auch die Menschenrechtspolitik gegen den Staatsterrorismus der 1970er und 1980er Jahre. Dass den Massenmördern der Prozess gemacht wurde, ist ein enormes Verdienst. In der Sozialpolitik waren die Sozialpläne und staatliche Gutscheine nach der tiefen Krise von 2001 wichtig, damit viele Millionen Menschen eine gewisse Stabilität in ihrem Leben erreichten. Es gibt ja bis heute eine große strukturelle Armut. Die Sozialpläne werden sicherlich weitergeführt werden. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde ermöglicht, was eine Forderung vieler sozialer Bewegungen war. Wir kommen wohl von einer Phase des Populismus mit hoher Intensität, nämlich der zwölf Jahre Präsidentschaft durch die Familie Kirchner, zu einem Populismus niederer Intensität.

Die Wahlen finden in einer Phase sinkender Nachfrage nach Rohstoffen und fallender Preise statt.

Man bemerkt die Krise schon. Die hohen Preise hatten ja ermöglicht, dass die Regierung wie noch nie in der Geschichte Sozialpolitik betreiben konnte. Ich habe das als einen Rohstoffkonsens bezeichnet, der sich in Argentinien, aber eigentlich auch global dadurch auszeichnete, dass immer mehr Rohstoffe für den Weltmarkt produziert wurden. Dafür wurde das argentinische Produktionsmodell in den vergangenen Jahren stark verändert. In der für die Wirtschaft zentralen Landwirtschaft verlor die Fleischproduktion ihre führende Stellung. Heute werden auf 22 Millionen Hektar der insgesamt 33 Millionen Hektar fruchtbaren Ackerlandes, also auf zwei Dritteln, transgenes Soja angebaut, das weitgehend von der Firma Monsanto kommt. Dazu kommt transgener Mais. Das bedeutet Abholzung, Verlust biologischer Vielfalt und vor allem die weitere Kriminalisierung der Bauern und Indigenen bis hin zur Ermordung in den von der Expansion betroffenen Regionen.

Auch die fallenden Öl- und Gaspreise sind bemerkbar. In Argentinien wird Fracking betrieben, vor allem in der Provinz Neuquén im Westen Argentiniens. Dort gab es starke Proteste. Das neue Bergbaugesetz ist aber sehr im Sinne der transnationalen Unternehmen und die Regierung will, dass etwa der chinesische Multi Sinopec dort investiert. Mit dem Preisverfall sind die Investitionen in die nicht-konventionellen Energieträger, die ja höher sind als bei konventionellen Energieträgern, zunächst zurückgestellt. Schließlich wird der großflächige Bergbau seit 2013 von der Regierung vorangetrieben, was zu starken Protesten im ganzen Land führte. Durch die fallenden Preise gibt es eine Art Wartestellung.

Sie sprechen von einem Ende des politischen und ökonomischen Zyklus in Lateinamerika, der um die Jahrhundertwende begonnen hat?

Die Infragestellung des neoliberalen Washington-Konsens um 2000 herum ging mit starken sozialen Bewegungen und entsprechenden Regierungen einher. Das ermöglichte ein neues Verhältnis zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. In Bolivien und Ecuador war das am deutlichsten; bei allen Unterschieden gilt das in gewisser Weise auch für Venezuela. Um 2003 beginnt der Rohstoffboom, womit die Extraktion und der Export von mineralischen, fossilen und agrarischen Rohstoffen intensiviert wird. Land, Territorien und Rechte werden vielfach enteignet. Es besteht seither eine starke Spannung zwischen der Ausweitung von politischen und sozialen Rechten, was die Regierungen durchaus wollen, und der Ausweitung der Kapitalmacht. Die Spannungen werden ab 2010 zu offenen Konflikten. In Bolivien jener um den Nationalpark TIPNIS, in Brasilien intensivieren sich die Auseinandersetzungen um den Staudamm Belo Monte, in Argentinien um das Bergwerk Famatina. Seit einigen Jahren gibt es in Ecuador Streit, ob das Naturschutzgebiet Yasuní, in dem viel Öl liegt, für die Förderung freigegeben wird.

Die Ursache für das Ende eines Zyklus sind somit die sinkenden Weltmarktpreise und die zunehmenden Konflikte?

Das schon. Es geht aber auch, und das ist politisch wichtig, um das Ende der Erwartungen in die Regierungen, die als links oder mitte-links bezeichnet wurden. Sie zeigen heute allesamt offen ihren populistischen Charakter. Der Populismus kommt in eine autoritärere Phase. Andere politische, insbesondere emanzipatorische Narrative, wie etwa die indigenistischen oder autonomen oder anderer Linken, werden deutlich geschwächt.

In Argentinien gibt es derzeit starke soziale Mobilisierungen, etwa der Gewerkschaften oder zur Verteidigung von Land und Territorium oder der Indigenen. Welchen Effekt haben sie auf die Politik?

Argentinien ist traditionell ein Land mit starken Mobilisierungen. Im Unterschied zu den 1990er Jahren sind die Konflikte komplexer. In den 1990ern war das zentrale Thema die Arbeitslosigkeit. Und aus dieser Zeit kommen die sogenannten Piqueteros mit ihren piquetes, also die Blockaden von Straßen oder Firmen durch organisierte arme Bevölkerungsteile, die dadurch auf ihre Anliegen aufmerksam machten. Die Gewerkschaften haben heute weiterhin Lohnforderungen, aber auch solche, mit der immer stärkeren Prekarisierung umzugehen. Über 30 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung in Argentinien ist prekarisiert. Im neuen Zyklus haben wir aber auch territoriale Konflikte, die mit der Expansion von Soja und Bergbau und damit dem massiven Aufkauf von Land verbunden sind.

Die sozio-territorialen Kämpfe haben eher lokale und regionale Sichtbarkeit, weniger auf nationaler Ebene. Ähnliches gilt für die Indigenen, auch wenn es seit sechs Monaten ein Protestcamp im Zentrum von Buenos Aires gibt, um der Forderung nach Land und Rechten Nachdruck zu verleihen. Bislang werden sie nicht von der Präsidentin empfangen, sie werden von den dominanten kirchneristischen Medien und jenen, die den Kirchnerismus unterstützen, unsichtbar gemacht. Insgesamt nimmt die Repression durch die Regierung gegenüber den Protesten zu.

Wo sehen Sie aktuell Alternativen?

Darauf habe ich keine klare Antwort. Das linksliberale Spektrum jenseits des Kirchnerismus ist kollabiert. Es erreichte bei den vergangenen Wahlen drei Prozent der Stimmen, weil es sich in die politische Mitte orientiert hat statt nach links. Sie ist damit Teil der allgemeinen Rechtsentwicklung in Argentinien. Sie wurde vom Zen-trum kooptiert. Ein großer strategischer Fehler war, sich vom Kirchnerismus abzusetzen. Noch bei den Präsidentschaftswahlen 2011 waren die Linksliberalen zweistärkste politische Kraft. Die Rechte ist heute besser organisiert.

Zugenommen hat die trotzkistische Linke, die sich aus drei Gruppierungen zusammenschoss. In einigen Provinzen kommt sie bei Wahlen auf gute Ergebnisse. Sie hat eine wichtige gewerkschaftliche Basis. Die Orientierung an den ArbeiterInnen ist natürlich wichtig, aber es ist ihr einziges Thema. Sie verstehen nicht, dass es andere Logiken und Konflikte gibt jenseits der Orientierung an den traditionellen ArbeiterInnen und der gewerkschaftlichen Diskurse. Das macht sie zu guten Delegierten, aber zu nicht so guten politischen RepräsentantInnen.

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