nd-aktuell.de / 29.10.2015 / Politik / Seite 2

Erdogan zittert vor Demirtas

Selbstbewusster Wahlkampf der Linken

Jan Keetman
Die türkische Regierungspartei AKP hofft, bei den Neuwahlen ihre absolute Mehrheit aus dem vorvergangenen Urnengang wiederzuerringen. Dafür zieht sie alle Register.

Die Wahlreklame der Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt auf: Höhere Renten, Streichung von Zinsschulden auf Kreditkarten, mehrwertsteuerfreie Düngemittel für die Landwirte, 1500 Lira Mindestlohn (etwa 470 Euro) usw. Der Wunschzettel hatte ein Aufschrei im Frühjahr bei den regierungstreuen Medien verursacht. Völlig unbezahlbar, nicht mehr als 1000 Lira Mindestlohn, sonst geht die Türkei so bankrott wie Griechenland. Der Wind hat sich gedreht. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP), auch Ak-Partei, »weiße Partei« genannt, hält inzwischen selbst 1300 Lira Mindestlohn für angemessen.

Die AKP ist nervös geworden, seit Meinungsforschungsinstitute unisono prophezeien, dass sie ihr Ziel, die am 7. Juni verlorene absolute Mehrheit zurückzuholen, nicht erreichen wird. Die Opposition hatte sich damals aber zu früh gefreut. Da die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht miteinander koalieren wollten, konnte die Opposition keine Koalitionsregierung bilden. Die AKP wiederum wollte auf keinen Fall mit der HDP, die als links und prokurdisch gilt, koalieren. Sie versuchte es aber auch nicht ernsthaft mit den anderen Parteien. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat die faktische Wahlniederlage der AKP, der er formal auf Grund seines Amtes gar nicht mehr angehört, nicht akzeptiert und deshalb nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen die Neuwahl angesetzt, die nun am Sonntag stattfindet.

Als Hauptgegnerin der AKP gilt die HDP. Erdogan wirft ihr vor, die Wähler eingeschüchtert zu haben und somit für die Wahlniederlage der AKP im Juni verantwortlich zu sein. In der Tat ist es so, dass die AKP in den kurdischen Gebieten am meisten Stimmen verloren hat, wofür allerdings vor allem Erdogans antikurdische Haltung im Syrienkonflikt verantwortlich gewesen ist.

Im Osten des Landes ist seit den Wahlen der Krieg gegen die PKK wieder voll entbrannt. Während der tagelangen Ausgangssperren schießen die »Sicherheitskräfte« auf alles, was sich bewegt. Beim Gang durch die buchstäblich zerschossenen Gassen fällt es schwer, daran zu glauben, dass das alles nur dem Schutz der Bevölkerung vor Terroristen dient.

Während er im Matsch an einer Polizeisperre wartet, erklärt mir der kurdische Abgeordnete Mithat Sancar, wie er den »Antiterrorkrieg« sieht. Die Bevölkerung solle eingeschüchtert werden, damit sie nicht noch einmal in Massen die HDP wählt. Gleichzeitig solle im Westen die HDP mit Krieg und Terror assoziiert werden.

Kurz vor der Wahl häufen sich Meldungen, die Vertreter der HDP mit Terrorismus in Zusammenhang bringen. Selbst den Anschlag auf die Friedensdemonstration in Ankara, bei dem Anfang des Monats 102 Menschen starben, soll ein HDP-Politiker vorher auf Twitter angekündigt haben. Dem absurden Vorwurf, dass jemand einen Anschlag auf die eigenen Leute vorher im Internet ausplaudert, wird mit einer Festnahme Nachdruck verliehen. Ohnehin gleichen die Erklärungen der Regierung zu dem Anschlag einem »Cocktail«, in dem alle möglichen Gruppen vorkommen, wie der frühere CHP-Vorsitzende Deniz Baykal formuliert.

Stützen kann sich die AKP auf die meisten Medien, vor allem das staatliche Fernsehen. Auf dessen Kanälen waren Erdogan und die AKP in knapp vier Wochen 59 Stunden präsent, die gesamte Opposition etwas über sechs Stunden, davon die HDP 18 Minuten. Dennoch scheint die Strategie gegen die HDP kaum Früchte zu tragen. Bei den Kurden im Osten nicht und auch nicht im Westen, wo die HDP bei der Jugend Punkte sammelt. Dazu trägt insbesondere ihr junger und schlagfertiger Spitzenpolitiker Selahattin Demirtas bei. Neulich erschien er in einer Studenten-WG und kochte ein typisches WG-Essen: eine Pfanne mit Tomaten und Eiern, aber genau das kam an.

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu versuchte es mit der Religion. und spricht häufig von »im Namen Gottes«. Er hat aber auch, die Massenproteste von 2013 betreffend, etwas gesagt, was Erdogan, nie über die Lippen käme: »Die Gezi-Demonstranten waren keine Terroristen«. Davutoglu hat wohl gemerkt, dass sich die Türkei ein Stück nach links gedreht hat.

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»Der türkische Staat betrachtet uns als politischen Störfaktor«
Der Bürgermeister der kurdischen Stadt Mardin, Ahmet Türk, klagt die Regierung an, Angst vor den Kurden zu schüren[1]

Links:

  1. http://www.nd-aktuell.de/artikel/989464.der-tuerkische-staat-betrachtet-uns-als-politischen-stoerfaktor.html