Rückzug in die Wagenburg

Medien und die Demokratie

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenn Angela Merkel angesichts des Flüchtlingszuzugs ein »Wir schaffen das« verkündet, spricht sie nicht für jene, die sich in einer politischen Wagenburg verschanzt haben. Das Gerede von der »Lügenpresse« eint dabei die Demagogen links wie rechts.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts des zu erwartenden Zuzugs von Flüchtlingen vor Wochen die Parole ausgab »Wir schaffen das«, war sie sich wahrscheinlich im Klaren darüber, auf wen sich dieses »Wir« bezog. Die Politikerin Merkel, so heißt es, trifft solche Entscheidungen nicht ohne vorherige Beratschlagung mit ihren Demoskopen, die ihr ein realistisches Abbild der politischen Stimmungslage im Volk geben sollen.

Das »Wir«, soviel ist heute klar, kann sich nicht auf Merkels Partei und deren Anhänger beziehen, denn die verweigern ihr zu einem wachsenden Teil die Gefolgschaft. Es bezieht sich aber auf die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland. Allerdings, so muss man einschränken, ist diese Mehrheit eine recht leise, unauffällige. Laut und auffallend sind dagegen jene, die sich in ihre Wagenburgen zurückgezogen haben, von wo aus sie die Welt in Gut und Böse, Oben und Unten, Wahrheit und Lüge scheiden. Und dies ist beileibe keine Haltung, die sich nur auf die Pegida-Demonstranten oder das AfD-Umfeld beschränkt. In Zeiten bevorstehender gesellschaftlicher Umbrüche waren Links und Rechts schon oft nahe beieinander, so auch diesmal. Die inquisitorisch gestellte Frage: Bist Du für oder gegen uns? duldet keine Differenzierungen, Abwägungen, leisen Töne. Das Gerede von der »Lügenpresse« eint die Demagogen links wie rechts. Man lese nur einmal die Leserkommentare in den Online-Foren von deutschen Medien (ja, auch die im »nd«!). Lüge ist ihnen alles, was nicht ihrem Bild von der Welt entspricht, und selbstverständlich ist alles von geheimen Mächten gesteuert, die Journalisten wie Marionetten an unsichtbaren Fäden führen. Die Fluchtbewegung aus Syrien - von den USA initiiert, um Europa und Deutschland zu schaden; der Bürgerkrieg in der Ukraine - ausschließlich ein Produkt der NATO-US-Kriegstreiber, um Europa und Russland zu entzweien.

In dieser Gedankenwelt gibt es keine Zufälle mehr, die Ereignissen eine von allen unerwartete Wendung geben können, keine Komplexität von Ursachenketten, keine Möglichkeit der Alternative im Bestehenden. Soll alles doch zugrunde gehen!

Martin Luther ging vor 500 Jahren davon aus, dass das Weltenende naht und formulierte deshalb diesen Satz: »Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.« Die »Apfelbäumchen« heutiger Zeit pflanzen uns Merkels Demoskopen. Die Mehrheit der Bundesbürger teile den Begriff »Lügenpresse« nicht, teilten sie am Wochenende mit. 88 Prozent der vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap befragten Bürger bewerten demzufolge das Informationsangebot von Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen und Internet in Deutschland als gut oder sehr gut. Die höchste Glaubwürdigkeit wird den öffentlich-rechtlichen Medien und den Tageszeitungen bescheinigt; 77 bzw. 68 Prozent der Befragten sind dieser Meinung. Auf einen Anteil von lediglich 6 Prozent kommen die Boulevardmedien. Auch das Internet wird nur von einer Minderheit von 31 Prozent als glaubwürdiges Medium eingestuft. Vermutlich sind unter diesen 31 Prozenten die lautesten »Lügenpresse«-Schreier.

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