Kopfsalat aus der Diskettenfabrik

Der japanische Multikonzern Toshiba baut Atomreaktoren, Fernseher und Mikrochips. Doch nun begibt er sich auf ein ganz anderes Geschäftsfeld: Gemüse. Von Felix Lill

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 7 Min.

Rucola können Noriaki Matsunagas Kinder so langsam nicht mehr sehen. »Eine Zeit lang mussten sie es jeden Tag zur Probe essen«, sagt der promovierte Ingenieur und grinst, als er die Tür zur alten Diskettenfabrik aufschiebt. »Aber es ist eben gesund, und Papa hat reichlich davon vorrätig.« Hinter der dicken Glastür reihen sich deckenhohe Regale, auf deren Etagen grelles Licht scheint. Darunter sprießen in unnatürlich rechtwinkliger Ordnung grüne Pflänzchen. »35 Tage dauert es, bis wir sie essen können.« Deutlich schneller als herkömmliches Gemüse vom Feld. »Das hier ist die Produktionsweise der Zukunft«, sagt Matsunaga ohne einen Anflug von Zweifel.

In Yokosuka, einer kleinen Stadt im Süden von Tokio, stellte Toshiba bis vor 20 Jahren noch Disketten her. Aber seit einem Jahr dienen diese sterilen, keimfreien Reinräume, in denen die alten Datenträger produziert werden mussten, zur Herstellung von Gemüse. Das Wissen über Laborproduktion aus diversen Geschäftsbereichen soll dabei helfen, Grundnahrungsmittel völlig zuverlässig für den Markt zu produzieren. »Bei uns gibt es keine Zufälle mehr«, sagt Matsunaga und zeigt durch den Raum. Die Temperatur liegt konstant bei 28 Grad, die Luftfeuchtigkeit ist perfekt kontrolliert, ebenso die Stärke des UV-Lichts, das in den Regalen auf die Pflanzen herabscheint. Deren Samen wiederum wurden anfangs in eine Plastikschale mit einem Schwamm eingesetzt, der nur genau reguliertes Wasser aufsaugt. Der ganze Vorgang wird rund um die Uhr per Kamera überwacht - alles geschieht mit Technologien, die Toshiba schon aus anderen Geschäftsbereichen beherrscht.

Es klingt nach Science Fiction, ist in Japan aber seit kurzem Realität. Mittlerweile üben sich dort eine Handvoll Hightechkonzerne in der Produktion von Gemüse. Panasonic, bekannt eher durch Fernseher und Haushaltgeräte, unterhält in Singapur eine 250-Quadratmeter-Farm, wo im Jahr 3,6 Tonnen Blattgemüse und Kräuter geerntet werden. Und Sharp - früher einer der größten Hersteller von Flachbildschirmen - baut in Dubai Früchte in klimatisierten Reinräumen an. Fujitsu, bekannt vor allem für seine Halbleiter und diverse IT-Produkte, stellt auf einem ehemaligen Fabrikgelände Gemüse her. Das Unternehmen Mirai testet ähnliche Möglichkeiten in einer alten Produktionsanlage von Sony. So macht es auch Toshiba, und das mit einer ganzen Reihe an Varianten: neben verschiedenem Blattgemüse, Mizuna und Spinat baut der Konzern auf 2000 Quadratmetern Fläche auch mehrere Kräuterpflanzen an, und verkauft die Produkte schon.

Im Showroom von Toshiba zeigt sich die breite Palette des Konzerns. Auf Toshiba-Fernsehern führt Konzernsprecher Hirokazu Tsukimoto einen Film über das Gemüse vor. »Alles ist sauber und nachhaltig produziert«, beteuert er. Aus einem Toshiba-Kühlschrank holt Tsukimoto den neuen Stolz des Konzerns - eine Plastikdose mit Toshiba-Blattsalat - der sauberer und länger haltbar zugleich sein soll.

Tatsächlich schmeckt der Salat ungewöhnlich kräftig und frisch. Da das Gemüse im Reinraum auch ohne Pestizide vor Würmern, Käfern und Bakterien geschützt ist, muss man es nicht abwaschen. So geht der Geschmack nicht verloren. Hinzu kommt: Durch die labormäßigen Wachstumsbedingungen ist man unabhängig von Wetter und Saison.

Es sind einmal gute Nachrichten aus dem Tokioter Multikonzern. Als bei der Nuklearkatastrophe vor viereinhalb Jahren im Nordosten Japans das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi havarierte, erwiesen sich die von Toshiba erbauten Reaktoren als nicht sicher genug. Über Monate steckte der Konzern zuletzt auch in einer Bilanzkrise. Die eigentlich im März fällige Endbilanzierung des vergangenen Geschäftsjahres war dieses Jahr mehrfach verschoben worden, nachdem Unregelmäßigkeiten in einigen Tochterfirmen zutage getreten waren, über die auch die Konzernspitze informiert gewesen war. Firmenchef Hisao Tanaka, der die Idee des Hightech-Gemüses vorangetrieben hatte, und zwei führende Manager räumten ihre Ämter, durch Korrekturen in Höhe von 1,15 Milliarden Euro sind die zunächst angeblichen Gewinne jetzt Verluste geworden. Der Aktienkurs fiel, eine Umstrukturierung des Konzerns ist ins Visier der Aufräumer gerückt.

Toshibas aktuelle Probleme zeigen auch, wie riskant es sein könnte, wenn die Lösung so zentraler Probleme wie Nahrungsmittelversorgung wenigen Konzernen überlassen ist. In großen Krisen können die am wenigsten profitablen Geschäftsbereiche einfach abgestoßen werden oder die Produktion wird eingestellt. Im Wesentlichen hängt das Wohl der Konsumenten am Wohl des Produzenten: will der nicht mehr herstellen, braucht es mindestens einen neuen Anbieter, der an dessen Stelle tritt, was aber nicht notgedrungen der Fall ist. Inmitten der Konzernkrise hat Toshiba vor kurzem sein Geschäft für Bildsensoren abgestoßen, die Zukunft der Halbleiter wird derzeit geprüft und LED-Produkte sollen künftig nicht mehr von Toshiba kommen. Weitere Bereiche könnten folgen.

Die neue Gemüsesparte aber steht nicht zur Debatte, beteuert man auf dem Gelände in Yokosuka. Schließlich sei die Technologie mittlerweile so weit entwickelt, dass sie für den Export reif ist. Und gerade Entwicklungsländer, in denen das Klima stark schwankt und die Bevölkerung schnell wächst, habe man im Auge, dort könnte Nahrung ohne Pestizide schon bald helfen, glaubt man. Von den Philippinen, aus Thailand, Brasilien und China hat Toshiba jedenfalls schon Anfragen für eine Zusammenarbeit erhalten, sagt Sprecher Hirokazu Tsukimoto. Auch in reichen, aber für bestimmte Gemüsesorten zu heißen Ländern wie Singapur und den Vereinigten Arabischen Emiraten bestehe Interesse.

Was sagen die bisherigen Hersteller von Gemüse dazu? In Japan befindet sich die Landwirtschaft seit kurzem, als das Freihandelsabkommen Trans-Pacific Partnership für den Pazifikraum beschlossen wurde, in einer Umbruchphase. Das Durchschnittsalter der Bauern liegt bei über 60 Jahren, junge Menschen verlassen die ländlichen Regionen häufig, weil die Arbeit auf den Feldern die meisten ihrer Generation nicht interessiert. Im Hause Toshiba heißt es zudem, man sei de facto gar kein Konkurrent zur klassischen Landwirtschaft. »Landwirtschaftliche Betriebe und einzelne Bauernhöfe verkaufen eher an den Endkunden. Wir richten uns bisher vor allem an Betriebe wie Restaurants und andere Unternehmen, die unsere Produkte als Zutaten weiterverarbeiten. Der Anteil, der an Endkunden geht, ist bisher eher gering«, sagt Hirokazu Tsukimoto.

Ob das so bleiben soll, wird nicht gesagt. Und falls das Hightechgemüse tatsächlich zu einem Exportschlager wird, Konzerne wie Toshiba sich dort mit ihren neuartigen Gewächshäusern niederlassen, könnte es in den Zielländern zu grundsätzlichen Umwälzungen führen. Mögen Entwicklungsländer trotz der angepriesenen Wetterunabhängigkeit auch nicht der erwartete Markt für die Gemüseproduktion à la Toshiba sein, so könnten die neuen Gewächshäuser deren Bauern doch mittelfristig Absatzmärkte wegnehmen - eben weil man unter den maßgeschneiderten Bedingungen auch manches Exportprodukt von Entwicklungsländern ablösen könnte.

Technisch gesehen könnte auch viel mehr Grünes gezüchtet werden. Im Gewächshaus hinterm Showroom führt Noriaki Matsunaga durch die Reihen: Rettich, Rucola, Basilikum, Zwiebelarten und auch Erdbeeren werden hier angebaut. »Alle können in unserem künstlichen Klima gut wachsen«, sagt Matsunaga. »Aber viele Sorten sind bisher nicht effizient, also haben wir noch längere Testphasen vor uns. Erdbeeren brauchen zum Beispiel zu viel Platz um zu wachsen, und am Ende sind dann auch nur fünf bis zehn Prozent der Ergebnisse wirklich essbar.« So lässt sich bisher kein Geschäft machen. Zum Vergleich mit dem schon eingetüteten Endprodukt Blattsalat, der auf Wochen- und Supermärkten verkauft wird: hier können zwischen 80 und 90 Prozent der Zucht in den Handel gehen.

Und selbst das Blattgemüse ist noch vergleichsweise teuer, wenn es aus dem Labor kommt. Dass Toshibas Kunden bisher eher Restaurants sind und kaum Endverbraucher, ist vor allem dadurch erklärt. Von den 550 000 Tonnen Blattsalat, die in Japan täglich abgesetzt werden, macht das Hightechprodukt von Toshiba derzeit weniger als ein Prozent aus. Das soll aber nicht so bleiben. Die alte Diskettenfabrik mit der aktuellen Produktion von 2000 Salatköpfen pro Tag ist nur zu 25 Prozent ausgelastet. Bald will man 300 Millionen Yen (rund 2,2 Millionen Euro) pro Jahr einnehmen, langfristig sollen gar 20 bis 30 Prozent der inländischen Nachfrage gestillt werden.

»Dafür werden weitere Investitionen nötig«, sagt Noriaki Matsunaga, als er den Reinraum mit den grün strahlenden Regalen hinter sich verschließt. Toshibas Gemüse muss dafür noch billiger werden. Man wünscht sich noch kürzere Zuchtzyklen, mehr Gemüsesorten, eine höhere Kapazität. Und all dies nicht nur in Konkurrenz zu herkömmlichen Bauern. Vor allem, weil andere Technikkonzerne - auch in Europa - schon mit Hochdruck an dem arbeiten, was in ihren Augen die Nahrungsmittelproduktion von morgen wird. Die Frage wäre dann, wer das alles kontrollieren darf.

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