Ein Leben im Pelz

In der »Furry-Szene« ist das Tragen von Kuscheltierkostümen Teil der eigenen Identität. Sebastian Bähr (Text) und Anja Märtin (Foto) waren neugierig und gingen auf Safari.

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Viele Tierhalter bestehen darauf, im Verhalten ihrer Schützlinge menschliche Eigenschaften erkennen zu können. Minka, die gebieterische, eigensinnige Perserkatze. Bello, der hilfsbereite Labrador. Manche der Fellknäuel werden zu besten Freunden, andere zu bewährten Gesprächspartnern. Die Vermenschlichung der Vierbeiner kann obskure Züge annehmen. Beispielsweise beim Scheren von fragwürdigen Frisuren oder beim Einkleiden mit modischen Pullovern. Anthropomorphismus, das Zusprechen von menschlichen Eigenschaften auf Tiere, mag seltsam anmuten.

In der Kulturgeschichte ist das Phänomen bereits seit Jahrtausenden zu finden. Sei es in der griechischen Mythologie in der Figur des Minotaurus - ein Geschöpf mit menschlichem Körper und Stierkopf - oder in zahlreichen Fabeln und Märchen. Auch in der modernen Popkultur wird der Gedanke aufgegriffen. Lügengeschichten erzählende Blaubären, reiche Enten, die Säcke voller Geld horten, oder Pizza verschlingende Schildkröten mit Kampfkunstausbildung - anthropomorphe Wesen sind weit verbreitet und haben die künstlerischen Grenzen der Formate Comic und Märchen längst überwunden. Unterbezahlte Studenten schlüpfen beispielsweise regelmäßig in Freizeitparks in die Tierkostüme jener Helden. In eingezäunten und überteuerten Kunstwelten erwecken sie Tinte und Tusche zum Leben, verteilen Autogramme und bringen Kinderaugen zum Leuchten. Die prekär beschäftigten Micky-Maus- und Donald-Duck-Komparsen sind mittlerweile aber nicht mehr die einzigen, die sich ein Fell über den Kopf ziehen.

Die Rede ist von »Furrys« (in etwa »Pelzige«). »Furrys« sind eine internationale Subkultur. Die meisten Mitglieder stammen aus den USA, Japan und Großbritannien. Ihr Interesse an anthropomorphen Wesen geht soweit, dass sich viele von ihnen in monatelanger Arbeit lebensgroße Tierkostüme nähen, in die sie bei Flashmobs, Partys oder Messen schlüpfen. Auf ihren Treffen verwandeln sie sich in Ganzkörperkuscheltiere, präsentieren sich gegenseitig ihre »Fursuits« (Fellkostüme) und kuscheln manchmal miteinander. Das »Furrysein« setzt aber nicht das Überziehen eines Fells voraus. Es gibt auch zahlreiche Interessierte, Helfer und Fotografen, die sich als Teil der Szene verstehen und (noch) keine künstlichen Pelze tragen. Sie unterstützen beispielsweise gemeinsame Events oder Umzüge und erfreuen sich dort an den Fell tragenden Gefährten. War die Furry-Gemeinde in Deutschland bisher eher klein, kamen 2014 zum internationalen »Eurofurence«-Treffen in Berlin über 3000 Teilnehmer.

Um Furrys besser zu verstehen, besuchen wir am Nachmittag des Halloween-Spektakels einen sogenannten »Fursuit-Walk« im Berliner Nordosten. Bei sonnigem Herbstwetter versammeln sich hier rund 30 aus der Stadt und ihrer Umgebung angereiste Pelzfreunde, um zum Teil in selbst gebastelten Tierkostümen durch den Kiez zu laufen. Angekündigt wurde der Lauf nicht. Um Passanten zu überraschen und um Journalisten auf Abstand zu halten, wurde das Treffen geheim gehalten. In einer ruhigen Seitenstraße sammeln wir uns, die letzten Kostümteile werden aufgesteckt. Unter den Anwesenden sind verschiedene Kreaturen wie Hunde, Katzen, Wölfe und Füchse, aber auch Mischwesen, die Elemente von mehreren Tieren vereinen. Flauschig und niedlich sind sie fast alle. Große Pranken laden zum Umarmen ein, haarige Körper wollen gedrückt werden.

Die Organisatoren der Pelzparade sind Fuxi, ein 23-jähriger Mann in hellbraunem Fuchskostüm, der im Privatleben als Triebfahrzeugführer bei der S-Bahn arbeitet, sowie die 30-jährige Shion, eine Frau in weißem Katzenkostüm, die als Kassiererin arbeitet. Für die Furrys sei der Umzug nicht nur eine Spaßaktion, erklären sie. Viele würden sich mit dem Tier identifizieren, dessen Kostüm sie tragen. »Der Fursuit drückt aus, wie wir uns sehen. Er stellt ein Tierwesen dar, mit dem wir uns verbunden fühlen. Er ist nicht nur Kunst, sondern Teil einer Lebenseinstellung«, sagt Shion. »Es gibt keinen konkreten Auslöser für unser Empfinden. Jeder entdeckt das für sich selbst«, fügt sie hinzu.

Bis zum Tragen des Kostüms kann es lange dauern, erklärt Fuxi. Er habe sechs Jahre gebraucht, um »Fursuiter« zu werden, also jemand, der sich traut, einen künstlichen Pelz anzuziehen. »Die meisten sind über Jahre passiv, bis sie den Schritt machen und in die Anzüge schlüpfen. Nur rund ein Drittel der Furrys trägt ein Kostüm. Es ist nur die äußere Schicht«, sagt er. Michiber, ein 44-jähriger Mann in einem blauen Fuchsanzug kommt zu mir. Er legt großen Wert darauf, dass Furrys keine »emotionalen Freaks« sind, wie er sagt. »Die meisten von uns stehen mit beiden Beinen fest im Leben. Unsere Hintergründe sind breit gefächert, wir sind ein Querschnitt der Bevölkerung«, erklärt er.

Nach einer letzten Absprache entscheidet sich das Plüschrudel zu starten. Überrascht blickende Passanten werden gegrüßt, Autofahrern wird gewunken. Zwischendurch gibt es immer wieder Pausen, um Fotos zu machen. Viele der Fußgänger lächeln, einige andere sind irritiert. So auch Beatrix und Stefanie, die beide mit ihren Kindern den Umzug mitverfolgen. »Für mich ist das befremdlich. Anfassen würde ich die nicht. Dafür sind mir die Kostüme zu muffig«, sagt Beatrix. »Für die Kinder ist das auch komisch. Die können das nicht einschätzen«, fügt Stefanie hinzu. Das junge Pärchen Hendrik und Katrin muss dagegen lachen, als der Aufzug an ihnen vorbei läuft. »Was ist das für eine Truppe? Lustig sind sie schon. Ich frag mich nur, warum die hier lang stiefeln«, sagt Hendrik, während ihm ein Wolf mit Hut zuwinkt.

Erklärende Gespräche könnten bei der Verwirrung helfen, aber die meisten Furrys achten darauf, während des Rundgangs nicht zu sprechen. »Wir kommunizieren mit Körpersprache«, erklärt ein junger Mann, der sich Karomberuga nennt und als Bestatter arbeitet. »Wenn wir Leute umarmen, ist das ein Zeichen von Zuneigung. Auch das Kuscheln hat bei uns keinen sexuellen Hintergrund. Wir wollen den Leuten Freude bereiten und sie für einen Augenblick aus der tristen Realität herausholen.«

Im Gespräch mit uns zeigen sich einige der Fellwesen über die gesellschaftlichen Reaktionen enttäuscht. In der Vergangenheit hätten Medien oft Lügen verbreitet und Furrys verspottet, beschweren sich viele. Auch mit den Passanten sei es nicht immer einfach. »Bei den Umzügen müssen wir uns vorsichtig verhalten«, sagt Michiber. »Nicht jeder kann mit uns etwas anfangen. Es kann leicht zu Missverständnissen kommen. Mit unseren felllosen Begleitern versuchen wir, Handgreiflichkeiten aus dem Weg zu gehen«, sagt er weiter. Probleme würden aber nur sehr selten vorkommen, fügt der blaue Fuchs hinzu. Nach einigen Stunden ist die Pelzparade zu Ende. Es wurden einige Hände geschüttelt und zahlreiche Fotos geknipst. Mit selbstbewussten Kuschelüberfällen hielt man sich diesmal eher zurück. Der Großteil der Fellknäuel ist dennoch zufrieden. Fuxis Tatzen umarmen uns zum Abschied.

Der Schriftsteller Dietmar Dath hat in seinem Science-Fiction-Roman »Die Abschaffung der Arten« von einer Zukunft geschrieben, in der die Grenze zwischen Tier und Mensch endgültig überwunden wurde. Intelligente und sprechende Tiere beherrschen in seiner Geschichte die Welt und können jederzeit ihr Aussehen nach Belieben verändern. In so einer Zukunft mag das Leben für Furrys vielleicht weniger kompliziert sein. Sie bräuchten keine Kostüme mehr, um ihre Identität auszuleben und könnten auch außerhalb von gemeinsamen, sporadischen Treffen so sein, wie sie sich fühlen. Sie wären in einer Welt unter Gleichen. Eine Welt ohne Furry-Kostüme wäre aber auch eine tristere Welt.

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