Vorm Aufstieg schon Absturz

»Clavigo« nach Goethe am Deutschen Theater Berlin, Regie: Stephan Kimmig

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Ist Clavigo etwa Claviga, und Marie vielleicht Mario? Er ist jedenfalls sie, aber sie redet sie an, als wäre er weiterhin er. Weil sie ja auch sie bleibt, obwohl sie er ist. So, wie die Rede von ihm geht, der doch aber sie wurde. Wie dem auch sie ... äh, sei: Der militante Genderschwachsinn bekommt hier seinen verdienten Hieb weg. Stephan Kimmig inszenierte »Clavigo« (Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Johanna Pfau, Musik: Pollyester) am Deutschen Theater Berlin. Eine Inszenierung »nach Goethe«.

Geschlechtertaumel also. Egal, wer hier wer sein will. Oder sein muss. Dichter Clavigo (Susanne Wolff) liebt Marie (Marcel Kohler), sie (also er) feuert seine (also ihre) Inspiration an; aber flammt dann das Werk, ist die Geliebte schon Asche. Das alte Spiel von Zuneigung und Missbrauch, von Charakter und Karriere. Erst stoßen, dann verstoßen. Am Ende ein Selbstmord und ein Mord. Wenn der Künstler, der Kühngeist die große Welt umfangen will - wie viel an kleiner Welt darf er, muss er opfern? Goethes Frage auf Lebenszeit: Wie viel Gretchen verträgt ein Faust?

Susanne Wolffs Clavigo rumort in Hochturmperücke, panisch selbstgefällig, über die Bühne. Aber für Augenblicke zeigt sie auch schmerzendes Bewusstsein, gefoltertes Gemüt und den Anhauch einer Sehnsucht, gütig, gelassen, also geheilt von Ruhmsucht zu sein. Marcel Kohlers Marie ist ausgezehrt von obdachlosen Wünschen nach einem liebenden Menschen, ein leidend Schlanker der Tattoo-Generation. Kathleen Morgeneyer gibt Maries Bruder, der Clavigos Gewissenlosigkeit öffentlich machen will: ein bis ins Herz gestiefelter Jagdhund des Boulevards. Wenn er mit der Live-Kamera zur Enthüllung anrückt, windet sich Clavigo in Pseudomoral, posiert in Betroffenheit. Moritz Grove spielt den Clavigo-Freund Carlos als kalten, turnschuhelastischen Elitenprediger, der sich dem Dichter als ein intriganzzäher Agent des Egoismus andient.

Ein anderer Clavigo ist möglich. Dieter Mann gab ihn (Regie: Adolf Dresen) vor über vierzig Jahren auf eben dieser Bühne: stehen, denken, sprechen. Hohes Wort, dichter Ton. Die Attraktion der Strenge damals und die freiwillige Gefangenschaft in einem Text. Das Trauerspiel: wenn der Mensch, der Künstler, der vermeintlich Freie nur in sich selber die heile Welt sieht und in jedem Draußen bloß Wirklichkeitsfetzen ohne jede Alternativkraft. Kimmig zeigt, was aus allem wurde: auch ein Trauerspiel. Das elend gesteigerte: dieses grelle, hysterische Spiel mit der eigenen Bedeutungsgier unter den Bedingungen des Pop. Der freie Mensch, der sich nichts mehr vorhalten lässt - außer einem Mikrofon. Der fortwährende Sog der Songs. Der ständige Run aller in ein neues Kostüm. Hier: ein Lendenschurz aus Wiener Würstchen; Männlichkeit im Tutu; ein Glitzerkleid mit Fettbauchpolster. Ein Heißluftballon liegt auf der Bühne, dessen farbiger Stoff bildet die bauschige Rückwand der Bühne. Was hier erheben soll, braucht heiße Luft. Aus leeren Köpfen, leeren Herzen pfeift sie, aus lauter letzten Löchern. Und nur in expressiven Videofetzen zeigt sich die leidenschaftliche Nahaufnahme einer Liebe, wie sie sich Clavigo und Marie zitternd an den Leib des jeweils anderen träumten.

Wir leben in Zeiten, da Massenmedien und deren Stars die Öffentlichkeit in Medienmassen verwandelten. Rock, Spoken-Word-Gaudi, Performance - das alles steht für jene Schlingkräfte des Leichten, die uns vor einem ständig drohenden Rücksturz ins Unfassbare bewahren. Das Unfassbare, dessen Bruder die Gewalt ist. Wir sehen die Bilder täglich. Moderne Kunst, auch die Solidar- und Benefizgalas des Pop - es wurde zur Ausdrucksform von Romantikern einer ethischen Wunschdynamik: Eine Welt, die Besseres verdient hätte, ließe sich von bestens Verdienenden ins Gewissen singen, palavern. Es war einst Claudia Schiffer, die in einem TV-Spot um Spendengeld für das Berliner Holocaust-Denkmal warb. Auch die Aids-Bekämpfung bedurfte zunächst der Fernsehgala, am besten mit Loriot als Moderator - denn gerade eine Aktion gegen den Tod benötigt den größten Komiker. So, wie »Brot für die Welt« immer wieder die fröhlichsten Herzbuben nötig hat. Wir werden wohl tatenlos zusehen müssen, wie Afrika stirbt, wenn nicht endlich Mario Barth aktiver wird. Im Spannungsfeld zwischen einem Zorn, der wehtun soll, und einer Ironie, die nichts bewirken wird, fühlt sich das Herz aller Zustandskritiker schmerzlich zerrissen. Auch das Herz dieser Inszenierung. Darin liegt ihr Wert.

Zum Symbol dieser Zerrissenheit wird Kathleen Morgeneyer. In »Bambi«-Abendrobe, helenefischerblond, leiert sie den veranstaltungsüblichen Schmalz, geht aber plötzlich über zu jener berühmten Antikapitalismus-Rede Jean Zieglers, die er in Salzburg nicht halten durfte (Kimmigs Inszenierung hatte dort im Sommer ihre Festspiel-Premiere). Mahnung daran, dass jedes tödlich an Hunger leidende Kind nicht stirbt, sondern ermordet wird. Grandios peinigend, wie Morgeneyer die bodenlose Dummheit eines Glamour-Gemüts bloßstellt, stammelnd zu harter Anklage wechselt und dies mit flehendem Beschwören einer läuternden Kunst verbindet (»Wunder sind möglich«) - und wie sie das Ganze so vorträgt, dass man an den garantiert falschen Stellen erschrickt oder lacht. Wunder sind möglich - das Glaubensrefugium für Illusionäre. Wo doch der Glaube wächst, zur Reinigung der Welt seien vorrangig Wunden zu schlagen.

Am Schluss tanzen sich die Schauspieler in bunten Clownskostümen vor an die Rampe. Kindisches Gehopse, wie wir es von jener rotpappnasigen Faschingsdemokratie kennen, die auf politischen Demonstrationen gern neben gepanzerten Polizeikordons herumhüpft. Lustig, lächerlich. Aber den Schwarzen Block, der bei solchen Gelegenheiten Steine im Hirn hat, will auch keiner. Niemand will niemanden, aber alle schreien: Ich. Und jeder meint, er spreche für ein Wir. Früher zogen Schausteller durch die Welt, jetzt stellt sich jeder selbst zur Schau. Und deshalb steigert sich jedes Wort, das Clavigo künderisch ins Mikrofon protzt, zu einer bizarren, schrill verzerrten Klang- und Echofolge: Ja, überschrei dich, übersteuer dich, nur überleg nicht lange - sei am lautesten und bild dir ein, just dann am lautersten zu wirken.

»Mir geht in der Welt nichts über mich: Denn Gott ist Gott, und ich bin ich.« Kräht Clavigo aufgekratzt. Ja, du bist der Experte von Paris, du weißt die Lösung der Flüchtlingskrise, du bist der schnellste Kommentator gegen deutsche Politiker, und du vergreifst dich, wenn du trefflich polemisch sein willst, am dämlichsten im Sprachvermögen. Was einst Gaukler in die Welt brachten, hat die Welt längst an sich gerissen: jeder ein Geschminkter, ein Scharlatan. Jeder Mensch ein armseliger Täuscher - der die Texte seiner sozialen Abhängigkeit auswendig gelernt hat und sie jeden Morgen, wenn die Aufführung namens Alltag beginnt, zum Vortrag bringt. Für ein gleichgültiges Publikum. Beifall bleibt gewöhnlich aus.

Heute, wo alle Vorstellungen von der Welt verschlissen sind, wurde alle Welt zur Vorstellung: Jeder plagt sich in einer Rolle, die er sich nicht aussuchen durfte. So geht Theater im Leben auf, aber geht dem Leben im Theater noch ein Licht auf? Vielleicht ganz gut, dass wir uns im Kreise drehen, denn erst dadurch kommen wir immer wieder bei der Grundfrage von Leben und Theater an: Was soll der Unsinn? Kimmigs Inszenierung offeriert das in einem verzweifelt komischen Zynismus und ist darin sehr wahrhaftig. Sie flattert karikierend von Moment zu Moment, wie jeder Mensch nur noch von Behauptung zu Behauptung flattert; der zweistündige Abend hat aber gleichsam, in Abständen, tief entsetzte, dunkel umränderte Augen. Trauer, freilich immer in Gefahr, ihren Grund zu vergessen.

Die Clowns nehmen die roten Nasen ab. Ende einer Maskerade. »Nach Goethe«: Theater für Nach-Kömmlinge. Für uns. Die wir nach den großen Gedanken und den großen Träumen leben. Nichts mehr wird groß. Immerhin: Auch die Enttäuschungen können kaum noch größer werden. Er, die Marie, zieht sich eine Plastetüte über den Kopf. Sie, der Clavigo, versucht vergebens, im Reifrock den Ballon zu besteigen. Aufstieg immer aufgeschoben, Absturz aber immer sofort.

Nächste Vorstellungen: 17., 23. November

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