nd-aktuell.de / 20.11.2015 / Kultur / Seite 15

Zwei Penisse, ein Klavier

Der 21. November ist der UNO-Welttag des Fernsehens

Hans-Dieter Schütt

Das Gemeinplätzchen schmeckt schal: Fernsehen ist kulturlos geworden, so, wie ein Hund herrenlos wird. Das Programm bellt. Das beißt niemanden mehr. Also ist Fernsehkritik von gestern. Fernsehkritik ist ein Punchingball für traurige Existenzen, die sich immer noch in der Illusion wähnen, sie würden als Boxer gebraucht, als Gegenkräfte, als Kämpfer. Als Kämpfer wofür denn? Für ein besseres, kulturvolleres, moderneres Programm? Modern ist das Netz mit seinen Möglichkeiten, die erst am Anfang lauern. Fernsehen aber hat alle Möglichkeiten hinter sich. Wenn es sich ändern wird, dann nach den Maßgaben jener digitalen Welt, die zu anderen Monitoren lockt. Übernahme, ob freundlich oder nicht.

Fernsehen ist, wie Hans Magnus Enzensberger schrieb, längst ein »Nullmedium«. Das soll überhaupt nicht abwertend klingen. Alles dient einem Zuschauer, der mit dem Anschalten des Geräts sein Recht in Anspruch nimmt, radikal abschalten zu dürfen. Damit ist gesagt, dass Fernsehen Wohlgefühle auslöst. Zum Beispiel? Viele Moderatorinnen sehen aus wie Judith Rakers, das macht die Welt nicht intelligenter, aber übersichtlich - worauf man nach des Tages Mühen schließlich ein Recht hat. Viele Sendungen erlösen den Zuschauer von der Plage, sich auch noch abends mit Problemen zu befassen, die einem schon am frühen Morgen über den Kopf wuchsen. Fernsehen ist ein Medium der Erschöpfungspflege, wenn wieder ein Tag »rumgebracht« wurde. Lebenszeit als Plage? Ehe uns dieser wahrlich entsetzliche Gedanke bewusst wird, schnell die TV-Köche her! Wenn schon jüngstes Gericht, dann soll es schmecken.

Trefflich, dass der Welttag des Fernsehens mit der UNO verbunden ist. Es geht ums Menschenrecht - auf fliehendes Denken, auf Realitätsabkehr, aufs Recht, den Geist eher zu Bett zu schicken als den Körper. Kritik am Fernsehen? Ein künstlich hochgeklügeltes Ritual. Es ist unsinnig, mit Kulturkritik punkten zu wollen - bei einem Publikum, das sich seine »geliebte Verblödung« ohnehin nicht nehmen lässt. Die Zuschauer würden nicht mehr ernst genommen von den Sendern? Wir Zuschauer nehmen uns doch selber nicht mehr ernst. Ja, Fernsehen war mal gut und folgte einem Kultur- und Bildungsauftrag. Dann wurde es teuer und also käuflich für Dummheit. Dann wurde es zynisch, denn nur so hält man jene Dummheit aus, die einem bewusst ist. Aber längst sind nicht mehr nur die Sendungen im Fernsehen zynisch, viel zynischer ist inzwischen der Klüngel vorm Fernseher. Wieder: wir. Das ist der typische Agonie-Kitzel, wenn ein System verödet. Untergänge sind traurig, ja, vor allem aber sind sie obszön - durch den Eifer, mit dem jeder an der Selbstzerstörung teilhaben möchte. »Wir machen ›Bauer sucht Schwein‹ zu einem Massenerfolg, und wenn zwei Männer mit ihren Penissen Klavier spielen, sitzt jeder vierte Zuschauer davor« (Roger Willemsen). Offiziell ist man kritisch, gar links, daheim aber Voyeur, man sitzt also ganz entspannt vor jener Banalität, die man der Masse gern vorhält. Immer sind die anderen gefährdet, weil dumm und manipulierbar, man selber bleibt gefeit. Die dümmste Prinzengarde ist die Avantgarde.

Schneller als gedacht, so vermutete der Journalist Günter Gaus als einer der versiertesten Kenner, Nutzer und Mahner des Betriebes, »wird speziell die Verflachung der Politik in den Massenmedien ein bisschen amüsieren, schließlich langweilen und abstumpfen.« Das Fernsehen werde »einen nicht geringeren Wandel unserer politischen Kultur bewirken, als es das Abschaffen des Dreiklassen-Wahlrechts und die Einführung des Frauenstimmrechts getan haben. Das Fernsehen, mit dem sich die Aufklärung zu vollenden scheint, trägt mit seiner Praxis des Schlagabtauschs zum Ende der Aufklärung bei.« Gesagt vor über dreißig Jahren.

Zwischen Jauchs »Wer wird Millionär?« und der Frage »Wer wird Bundeskanzler?« finden längst mediale Annäherungen statt, die ein demokratisches System fatal revolutionieren: Publikums- und Telefon-Joker sowie die Fünfzig-Fünfzig-Variante erscheinen heute schon wie ein methodisches Vorfeld künftiger Wahlentscheidungen, bei denen Kandidaten für ein politisches Amt nur noch als Tele-Visionäre herumgereicht werden. Irgendwann wird dann auch nicht mehr abgewählt, sondern die weit höhere Bestrafung angewendet: Wegzappen!

Zappen ist andererseits das letztverbliebene kulturvolle Verhalten, das vorm Bildschirm möglich ist. »Alpenpanorama« und Tierfilme ausgenommen: Zapp weg, wenn sie dir mit Bildung kommen. Zapp weiter, wenn sie dich kurz nach Mitternacht per Dokumentarfilm mit dem schweren Leben thailändischer Reisbauern belästigen. Sei misstrauisch, wenn Kunst droht. Für Kunst zuständig ist das Buch, das schon so lange ungelesen in deiner Bibliothek steht. Oder das Theater, in dem du so lange nicht warst. Die Galerie, das Konzert. Das alles ist Kultur, ist Niveau, dem eine gewisse geistige Anstrengung eingeschrieben bleiben möge. Aber doch nicht das Fernsehen!

Fernsehen ist das Lagerfeuer, das du aus deiner Jugend kennst. Die etwas anders gestaltete Büchse Bier. Fernsehen ist die Rückkehr der harten Droge zur Schlaftablette. Gehirnwäsche, die reinen Tisch macht mit Anspruch. Enzensberger: »Sobald im Sendefluss ein Inhalt auftaucht, eine echte Nachricht oder gar eine Argument, das an die Außenwelt erinnert - man stutzt, reibt sich die Augen, ist verstimmt und greift zur Fernbedienung. Der Zuschauer ist sich völlig darüber im klaren, dass er es nicht mit einem Kommunikationsmittel zu tun hat, sondern mit einem Mittel zur Verweigerung von Kommunikation.« Und Information. Seit ewigen Zeiten stieren wir abends auf die »Tagesschau«, sehen die Länderumrisse des Nahen Ostens. Aber wer wüsste auf Anhieb nachzuzeichnen, was er allabendlich an sich vorbeirauschen lässt?

Ich liebe die Sinnlosigkeit des Fernsehens, seine Grobheit, seine Öde, seinen biederen Blödsinn, seine bunt ausgemalte Leere, seinen Kitsch, seine Klischees, seine geschwätzigen Shows, seine nichtssagende Nachrichtenkultur, seine aufgedröhnten Routinekrimis. Ich brauche nichts davon, und mache doch in abgespannter Lage davon Gebrauch. Ich mag all die großartigen Schauspieler, die sich an billigste Storys und Serien möglichst teuer verkaufen und doch großartige Schauspieler bleiben. Ich gestatte mir allabendlich, Bücher zu schließen, auch den Laptop zuzuklappen, die familiären Gespräche einzustellen und dann nach Herzenslust, für Momente, ein wenig zu verblöden. Deshalb schaue ich auf Fernsehkritiker, die tapfer und maßstäblich Ästhetik und Ethik überwachen, so mitleidvoll. Sie wissen noch nicht, dass es sie gar nicht mehr gibt. Sie rackern sich ab auf verlorenem Posten.

Aber natürlich, man möchte nicht gar zu peinlich wirken, also muss dieser Text politisch korrekt, also kulturkritisch enden. Am besten mit Heiner Müller. Schön hochgreifen jetzt. Früher gab es Störungen im Programm. Die Sender suchten fieberhaft den Schaden. Das genau erinnert an Müllers »Herakles 2 oder Die Hydra«. Da heißt es: »Lange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten, in dem betäubend warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen schien, in der immer gleichen Dämmerung der kaum sichtbaren Blutspur auf dem gleichmäßig schwankenden Boden nach, allein in die Schlacht mit dem Tier.« Der Kämpfer geht durch den Wald und sucht das Tier, das ihn vernichten will. Sucht die Störung. Bis er begriff, »in der aufsteigenden Panik: der Wald war das Tier, lange schon war der Wald, den zu durchschreiten er geglaubt hatte - das Tier gewesen.« So muss begreifen, wer in den Fernseher starrt: Die Störung, die man befürchtet, ist immer schon da, denn diese Störung - das ist das laufende Programm.