nd-aktuell.de / 20.11.2015 / Politik / Seite 5

»An der Basis rumort es«

Ex-Parteichef Ludger Volmer sieht bei den Grünen weiter Konflikte in der Flüchtlingspolitik und warnt vor einem Versinken im Mainstream

Früher wurde bei einem Parteitag der Grünen ein Farbbeutel geworfen, als eine strittige Entscheidung zum Kosovokrieg getroffen wurde. Nun hat die Partei weitgehend geräuschlos im Bundesrat dabei geholfen, das Asylrecht zu verschärfen. Wird beim jetzt anstehenden Parteitag der Aufstand ausbleiben?

An der Basis rumort es wegen dieser Entscheidung. Die Leute, die aktiv in der Flüchtlingshilfe engagiert sind, sind überhaupt nicht glücklich mit diesem Kurswechsel auf der Bundesebene. Deshalb erwarte ich strittige Diskussionen. Meines Wissens werden dort sogar ad hoc Anträge zur Flüchtlingspolitik vorbereitet.

Also sehen Sie in dieser Frage nicht einen Konflikt zwischen den Flügeln der Grünen, sondern vor allem zwischen Teilen der Basis und der Parteiführung?

Die Grünen sind in der misslichen Situation, auf der einen Seite ihre Grundwerte verteidigen zu wollen. Dazu gehört auch die Verteidigung des bisherigen Asylrechts. Auf der anderen Seite haben die Regierungsmitglieder das Problem, die Flüchtlingskrise praktisch zu managen. Die Politik hat nicht die notwendigen Instrumente und Mittel, um das Problem so zu bewältigen, dass nicht auch verbreitete Unruhe in der Wohnbevölkerung entsteht. Rigorose Programme zu verfassen und dazu zu stehen, ist die eine Sache. Wenn man aber als Bürgermeister, Ministerpräsident oder Parlamentarier Entscheidungen treffen muss, ist das etwas anderes. Zwischen beiden Ebenen gibt es ein Spannungsverhältnis. Dieses müssen die einzelnen Personen in sich selber aushalten.

Haben Sie Verständnis dafür, dass diejenigen, die in politischer Verantwortung sind, nun unter anderem für die Ausweitung sogenannter sicherer Herkunftsstaaten in Südosteuropa gestimmt haben?

Die Grünen leben seit ihrer Gründung in dem Spannungsverhältnis, möglichst viel durchsetzen zu wollen und in Koalitionen meist als schwächerer Partner Abstriche machen zu müssen. Aus den Dilemmata, die sich dann ergeben, kommt man nur heraus, wenn man sich entweder für die reine Utopie entscheidet und aus der Politik verabschiedet oder einen richtungslosen Pragmatismus wie die beiden großen Volksparteien verfolgt. Beides kann nicht die Lösung für die Grünen sein.

Vor einiger Zeit haben die Grünen darüber diskutiert, was der Freiheitsbegriff für sie bedeutet. Beim Parteitag wird es nun erneut darum gehen, Ökonomie und Ökologie zu verbinden. Deutet sich im Unterschied zum Umverteilungswahlkampf von 2013 nun eine Hinwendung zu einem grünen Wirtschaftsliberalismus an?

Ich habe eher den Eindruck, dass sich die Grünen von den neoliberalen Tendenzen, die sich dort vor einigen Jahren breitgemacht haben, abwenden. Der Umverteilungswahlkampf war nicht im Prinzip falsch, sondern er wurde praktisch falsch organisiert und in falsche Diskurse eingebettet. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Man muss sich nur die Analysen von Thomas Piketty ansehen - insbesondere in den letzten zehn Jahren über die Mechanismen des Neoliberalismus. Auch im Westen haben sich Oligarchien entwickelt. Diese sind mittlerweile mächtiger als so manches demokratisch gewählte Parlament. Man kann nur hoffen, dass sich die Grünen dieser Frage stellen und die Frage von Armut und Reichtum auch in der Perspektive der großen politischen Machtverschiebungen diskutieren.

Wie groß sehen Sie die Chancen, dass die Grünen noch einmal im Wahlkampf die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Anhebung des Spitzensteuersatzes fordern werden?

Die Grünen täten gut daran, sich mit dem Thema Armut und Reichtum zu befassen. Wenn sich die Partei von dieser grundsätzlich antikapitalistischen Ausrichtung verabschieden würde, dann wird sie irgendwann im Mainstream versinken. Ihre Forderung nach ökologischer Gestaltung der Wirtschaft würde dann als ziemlich fade daherkommen.

Der Freiheitsbegriff hat auch eine andere Dimension. Angesichts der Debatten nach den Anschlägen von Paris würde sich die Chance für die Grünen bieten, sich wieder als Bürgerrechtspartei zu profilieren. Sehen Sie ein Bemühen darum?

Die Grünen haben sich immer als Bürgerrechtspartei profiliert. Ich habe eher immer kritisiert, dass darüber die soziale Dimension verloren gegangen ist und dass die Menschenrechtsfrage gegen die Sicherheitsfrage gesetzt worden ist. Wenn man auf die Fluchtursachen eingeht, kann man sehen, dass Bürgerrechtspolitik und eine völlig neue Außenpolitik miteinander verbunden werden müssten. Mit innenpolitischen Maßnahmen - ob links- oder rechtsherum - kann man außenpolitisch verursachte Probleme letztlich nicht lösen. Der Kolonialismus des Westens schlägt jetzt gegen diesen selbst zurück. Wenn man sich die Flüchtlingskrise und den internationalen Terror ansieht, kann man nur zu dem Ergebnis kommen, dass wir eine völlig neue Politik brauchen im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika. Ich weiß auch von Leuten in der Partei, die daran arbeiten und entsprechende Anträge für den Parteitag vorbereiten.

Die Bundesregierung schließt nach den Anschlägen von Paris eine Beteiligung der Bundeswehr in Syrien nicht aus, wenn der UN-Sicherheitsrat einen Beschluss fassen sollte. Welche Positionierung der Grünen erwarten Sie hierzu?

Dass der »Islamische Staat« nicht nur ein beliebiger Gegner ist, sondern der Menschheitsfeind schlechthin und mit allen Mitteln bekämpft werden muss, daran gibt es keine Zweifel. Trotzdem wissen die Grünen wie alle anderen, dass militärische Mittel nicht die geeigneten, zumindest nicht die einzig geeigneten Methoden sind, sondern dass man eine Außenpolitik braucht, welche die Probleme im Grundsatz zu lösen versucht. Statt militärisch zu intervenieren, müsste man die Regionalmächte an einen Tisch bringen, wie es die OSZE für den euro-atlantischen Raum gemacht hat, um dann am Runden Tisch einen Interessenausgleich zu organisieren. Dabei können auch die alten Kolonialgrenzen kein Tabu sein. Sie sind ohnehin praktisch obsolet geworden.

Das Problem ist, dass der IS inzwischen durch seine Eroberungen in Syrien und Irak selber zu einer Regionalmacht geworden ist, die aber nicht an Verhandlungen beteiligt werden kann.

Alle Verhandlungen, auch damals im Ost-West-Konflikt, hatten eine Währung. Das waren Menschenleben und Lebenschancen. Eine Gruppierung, die nicht auf Leben zielt, sondern auf Tod, ist nicht gesprächsfähig.

Fragen: Aert van Riel