Türkei: Polizei geht mit Tränengas gegen Proteste vor

Nach Verhaftung regierungskritischer Journalisten spricht EU von »Besorgnis erregender Entwicklung« / Nach Enthüllungen über Ankaras Unterstützung für IS-Miliz / Chefredakteur und Büroleiter der »Cumhüriyet« angeklagt

  • Lesedauer: 5 Min.

Update 15.10 Uhr: Polizei geht mit Tränengas gegen Proteste vor
Die türkische Polizei ist gewaltsam gegen Proteste vorgegangen, bei denen in Ankara Hunderte gegen die Verhaftung von zwei »Cumhuriyet«-Journalisten auf die Straße gegangen waren. Es wured Tränengas gegen die Menschen eingesetzt. Unter den Demonstranten waren auch mehrere Abgeordnete der größten Oppositionspartei CHP. Im Istanbuler Stadtteil Sisli demonstrierten am Freitag rund Tausend Menschen vor dem Redaktionsgebäude der »Cumhuriyet«.

Update 13.35 Uhr: Auch Protestkundgebung in Düsseldorf
Vor dem türkischen Generalkonsulat in Düsseldorf findet am Freitag ebenfalls eine Protetskundgebung gegen die Verhaftung der Journalisten in der Türkei statt. Dies berichtete die WDR-Journalistin Damla Hekimoğlu auf twitter.

Update 13.30 Uhr: Journalistenverbände fordern EU auf, sich für die Journalisten einzusetzen
Bei einer Protestkundgebung mit mehr als tausend Teilnehmern vor der Redaktion von »Cumhuriyet« beklagten Politiker und Journalisten am Freitag, Erdogan habe in den vergangenen Jahren große Teile der Justiz unter seine Kontrolle gebracht. Bestraft werden sollten nicht die Journalisten, sondern jene, die Waffen nach Syrien lieferten, sagten Redner bei der Kundgebung.

Die Journalistenverbände TGC und TGS betonten in einer gemeinsamen Erklärung, es sei nicht die Aufgabe von Journalisten, staatliche Interessen zu schützen. Das Vorgehen der Justiz widerspreche der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichtes und auch europäischem Recht.

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) forderte die Bundesregierung auf, sich für eine sofortige Freilassung einsetzen. In einem Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wies der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall darauf hin, dass die Journalisten nur ihrer Aufgabe der kritischen Berichterstattung nachgekommen seien. »Journalismus ist kein Terrorismus«, erklärte er. An europäischen Staatschefs, die sich am Sonntag zu einem Flüchtlingsgipfel mit der Türkei treffen, appellierte Überall: »Wo Journalisten verfolgt und eingesperrt werden, dürfen die Vertreter europäischer Demokratien nicht wegsehen.«

Die EU nannte die Verhaftungen eine »Besorgnis erregende Entwicklung«, die aufmerksam verfolgt werde. Auch die US-Botschaft in Ankara erklärte sich »sehr besorgt«. Mehrere deutsche Politiker forderten die EU-Führung auf, bei dem Gipfel auf die Einhaltung der Pressefreiheit zu dringen und diese nicht für Zugeständnisse der Türkei in der Flüchtlingskrise zu opfern.

Update 13.15 Uhr: Reporter ohne Grenzen verurteilt Verhaftung von Cumhuriyet-Journalisten
Reporter ohne Grenzen (ROG) wies nach der der Cumhuriyet-Journalisten, dass »unabhängiger Journalismus in der Türkei nur unter schwersten Bedingungen möglich ist«. Dies sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr am Freitag. Zu den besorgniserregenden Entwicklungen für die Pressefreiheit in der Türkei gehörten laut ROG die immer stärkere Medienkonzentration in den Händen regierungsnaher Unternehmer sowie eine zunehmend systematische Internetzensur ohne richterliche Prüfung. Ergänzt werde die Einschüchterung »durch repressive Gesetze, eine von Sicherheitsdenken dominierte Justiz und verbreitete, selten geahndete Polizeigewalt«. Redaktionen seien wiederholt von AKP-Anhängern angegriffen worden. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten.

Türkei: Regierungskritische Journalisten inhaftiert

Berlin. In der Türkei sind zwei regierungskritische Journalisten wegen Spionage angeklagt und inhaftiert worden. Dem Chefredakteur der oppositionellen Zeitung »Cumhüriyet«, Can Dündar, und seinem Büroleiter in Ankara, Erdem Gül, werden »Spionage«, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die »Verbreitung von Staatsgeheimnissen« vorgeworfen - weil die Zeitung Fotos von der Durchsuchung eines angeblich für die Dschihadistenmiliz IS (Daesh) in Syrien bestimmten Waffenkonvois des türkischen Geheimdienstes MIT im Januar 2014 veröffentlicht hatte.

Kritiker warfen der türkischen Regierung damals vor, nicht entschieden genug gegen die Dschihadisten vorzugehen oder diese sogar im Kampf gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad mit Waffen zu unterstützen. Die Zeitung »Cumhüriyet« ist auf striktem Oppositionskurs zum autoritären islamisch-konservativen Regime unter Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der hatte im Mai Anzeige gegen »Cumhüriyet« erstattet. Nach der Veröffentlichung des Berichts zu der angeblichen Waffenlieferung wurden Ende Oktober die Büros von »Cumhüriyet« in Istanbul und Ankara durchsucht. Erdogan wies den Bericht des Blattes entschieden zurück und kündigte an, Dündar werde »einen hohen Preis zahlen«. Der Chefredakteur sagte nun vor Beginn der Gerichtsverhandlung in Istanbul, das Vorgehen der Justiz sei für ihn und seinen Kollegen eine »Ehrenmedaille«.

Der Chef der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, schrieb in einer ersten Reaktion auf Twitter: »Wenn nicht diejenigen, die eine Straftat begangen haben, sondern diejenigen, die über die Tat berichten, verhaftet werden, soll niemand sagen: ›In der Türkei ist die Presse frei und die Justiz unabhängig und unparteiisch‹«.

»Cumhüriyet« wurde vergangene Woche von der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen als Medium des Jahres ausgezeichnet. Dündar und Gül würden aus »politischen Gründen verfolgt«, erklärte die Organisation. Dies sei ein weiterer Beleg für das Bestreben der türkischen Staatsführung, »den unabhängigen Journalismus auszulöschen«. Der Regierung in Ankara werden seit Jahren immer wieder Angriffe auf die Pressefreiheit vorgeworfen.

Der Haftbefehl kommt nur wenige Tage vor dem EU-Gipfel mit der Türkei in Brüssel. Die EU-Staaten wollen am Sonntag mit Ankara einen Aktionsplan zur verstärkten Zusammenarbeit in der politischen Krise im Umgang mit den Flüchtlingen beschließen. Im Gegenzug hatte die EU der Türkei unter anderem eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses in Aussicht gestellt. Der türkische Europa-Minister Volkan Bozkir sagte am Donnerstag nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu, Mitte Dezember solle mit Verhandlungen über den Bereich Wirtschaft und Finanzen begonnen werden. Agenturen/nd

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