Privatschulen? Abschaffen!

Ohne neue Konzepte in der Bildungspolitik wird unser Schulsystem weiterhin unter seinen Möglichkeiten bleiben, meint der Philosoph Karl-Friedrich Wessel.

  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Professor Wessel, seit Jahren wird eine Reform des bundesdeutschen Bildungssystems gefordert. Wo wären hier aus Ihrer Sicht die Prioritäten zu setzen?

Wenn ich könnte, würde ich als erstes die Privatschulen abschaffen. Denn die verfügen, von Ausnahmen abgesehen, über kein tragfähiges pädagogisches Konzept und vertiefen die soziale Spaltung der Gesellschaft auf fast unerträgliche Weise. Desweiteren fällt mir auf, dass die systematische Bildung in vielen Fächern, namentlich den Naturwissenschaften, zunehmend an Bedeutung verliert. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung einer Art von Naturkunde an Stelle von Physik, Chemie und Biologie. Überdies bin ich der Auffassung, dass es der Pädagogik an einem anthropologischen Grundkonzept mangelt. Einem Konzept, das auf der individuellen Vielfalt des Menschen und seiner Möglichkeiten beruht, und nicht darauf, die Individualität an ein vorgegebenes pädagogisches Maß anzupassen.

Ist die Humanontogenetik ein solches Konzept?

So unbescheiden will ich nicht sein. Aber sie ist zumindest ein Versuch, das Individuum als biopsychosoziale Einheit zu begreifen und nicht als Defizitwesen, dessen Entwicklung mit einem »Noch-nicht-können« (Kindheit) beginnt und einem »Nicht-mehr-können« (Alter) endet. Humanontogenetisch gesehen sind alle Phasen des Lebens in ihrer Spezifik vollwertig. Deshalb verdient auch das Kind den vollen Respekt der Erwachsenen. Solange dies nicht an allen Schulen Konsens ist, wird in vielen Klassenzimmern weiter der Geist der autoritären Bildung walten, und wird so mancher Versuch, zu einer wirklichen Inklusion zu gelangen, an traditionellen Vorurteilen scheitern.

Obwohl die Humanontogenetik in der DDR entstanden ist, gab es dafür auch viel Zustimmung aus dem Westen. Dennoch ist es Ihnen nach der Wende trotz eines Hungerstreiks nicht gelungen, Ihren Lehrstuhl zu erhalten …

… und das, obwohl es vorher klare Zusagen von Seiten der Humboldt-Universität gab. Doch Schwamm drüber, das ist Geschichte. Dank des Engagements vieler Kollegen wird bis heute in Deutschland humanontogenetische Forschung betrieben, was in einer Zeit, in der längst überwunden geglaubte einseitige Menschenbilder neue Akzeptanz finden, dringender ist denn je.

Was hat Sie überhaupt veranlasst, vor 30 Jahren zusammen mit anderen »Humboldtianern« das Projekt Biopsychosoziale Einheit Mensch in Angriff zu nehmen?

Auch in der DDR war das offiziell verkündete Menschenbild von Einseitigkeiten geprägt. Mit Blick auf die sechste Feuerbachthese von Marx, wonach das Wesen des Menschen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sei, glaubten viele Philosophen, dass man die biologische und psychische Ausstattung des Menschen getrost vernachlässigen könne. Natürlich blieb das nicht unwidersprochen. Bekannte Wissenschaftler, ich nenne hier nur den Verhaltensbiologen Günter Tembrock, betonten die biopsychosoziale Ganzheit des Menschen und gaben so den Human- und Sozialwissenschaften neuen Schub. Das gilt auch für die wissenschaftliche Pädagogik.

Wie reagierten die führenden SED-Bildungspolitiker? Soviel ich weiß, hatten Sie schon früher heftige Auseinandersetzungen mit dem Ministerium für Volksbildung.

Nun ja, das ist nur eine Episode am Rande. Viel bedenklicher fand ich die Tatsache, dass man durch das Beharren auf ideologischen Wunschbildern die fortschrittlichen Impulse der DDR-Bildungspolitik unnötig konterkarierte. Man denke etwa an das oft beschworene Ziel, jeden Schüler zu einer allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit zu entwickeln. Das war natürlich eine Illusion, denn die Individualität eines Menschen ist in sich differenziert. Jeder hat Stärken - und Schwächen, die sich auch in bester pädagogischer Absicht nicht gänzlich abbauen lassen.

Könnten Sie das näher erläutern?

Kein Mensch interessiert sich für alles. Das ist auch gar nicht möglich angesichts der ungeheuren Komplexität der Realität. Vielmehr verfügt jeder Mensch über spezifische kognitive, ästhetische und soziale Kompetenzen, die den Kern seiner Persönlichkeit ausmachen und ihn befähigen, nicht nur Wissen aufzunehmen, sondern es auch geistig zu strukturieren. Das ist nachhaltiges Lernen, welches jedoch voraussetzt, dass jeder Schüler die Chance bekommt, sich gleichsam seine eigene geistige Umwelt zu schaffen.

Mit Verlaub, wäre das nicht ein Plädoyer für eine frühzeitige Trennung der Schüler nach Begabungen?

Im Gegenteil. In unserem Schulsystem erfolgt die Trennung viel zu früh. In der vierten Klasse lässt sich noch nicht absehen, über welche Kompetenzen ein Kind verfügt. Der Kern einer Persönlichkeit braucht Zeit zum Reifen. Es mag daher paradox klingen. Aber in der DDR, in der die Schüler gemeinsam bis zur zehnten Klasse lernten, waren die Bedingungen für die Individualentwicklung nicht schlechter als heute. Ich würde sogar sagen, sie waren teilweise besser. Denn man darf nicht vergessen, dass das Scheitern auf dem Gymnasium die Seele eines Kindes oft irreversibel beschädigt. Und auch die üblichen Prestigekämpfe von Eltern um die gymnasiale Tauglichkeit ihrer Kinder sind mit einem humanistischen Bildungsideal schwer zu vereinen.

Nach PISA konnte man oft hören, dass Finnland das DDR-Schulsystem nachgeahmt habe. Teilen Sie diese Auffassung?

Ich halte das für eine Legende. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass sich einige Merkmale des DDR-Schulsystems auch in Finnland bewährt haben. Vom langen gemeinsamen Lernen war bereits die Rede. Ein weiterer Vorzug der DDR-Schule bestand in ihrer sozialen Grundausrichtung. Das heißt, die Bildungschancen eines Kindes hingen nicht von den finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern ab. Und noch etwas möchte ich erwähnen: In der DDR erhielten die Lehrer eine exzellente methodische Ausbildung, etwa an den Pädagogischen Hochschulen, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt.

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