Er pflügte nicht, er pflegte

Zum Tod des großen europäischen Theaterregisseurs Luc Bondy

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Was zählt im Leben? Vielleicht, dass der einzelne Mensch rechtzeitig erahnt, was mit ihm - und unverwechselbar nur mit ihm! - gemeint sei. Dass er erfühlt, welcher Traum in ihm wirklich auch die Kraft hat, erfüllt zu werden. Dass er erfährt, auf welche Weise er ganz zu sich selbst kommen kann. Wem diese Ahnung, dieses Gefühl, diese Erfahrung versagt bleiben - wie soll der gern oder gar glücklich leben?

Diese Frage hat Luc Bondy zu Grund und Geist und Grazie seines Theaters erhoben. An Wiens Burgtheater, an Berlins Schaubühne, am Berliner Ensemble, auf vielen großen Bühnen Europas. Ob er Tschechow, Botho Strauß, Shakespeare, Marivaux, Beckett inszenierte: Es war stets, als habe sich alle Aggressivität, alle Gequältheit, alle Spaß-Wütigkeit und aller Zeit-Zorn des Theaters endlich auflösen dürfen in betörendem Seelendämmer und berückendem Schauspielertheater. Bondy war kein ergrimmter Aufklärer über das Rattenherz des Kriegsmenschen, kein Zertrümmerer der gelogenen Melancholien, kein Klartextler der Emanzipation, kein Wilder gegen die Weltverschlechterer, kein Wütiger gegen die Wutlosen.

Botho Strauß beschrieb Bondy als einen »Sensibilisten von der Nacht- und Traumseite« des zum Teil sehr »amusischen Achtundsechzigertums«. Er konnte Worte nicht so verkrüppeln, dass sie von den Schauspielern wie von Demonstranten getragen werden müssten. Er gehörte nicht zu den »Väterhassern«. Er umpflügte Texte nicht, er umpflegte sie. Er ist wahrscheinlich der Vorsichtigste unter den Regisseuren seiner Generation gewesen. Er peitschte die menschlichen Verwundungen nicht auf die Bühne hinaus, er begleitete die Figuren traurig, tröstend auf Spaziergängen durch eine Welt, in der das Schmerzvolle gar nicht mehr bemerkt wird. Was steckt in jedem beiläufigen Aufeinandertreffen, in jedem Anein-andervorbeigehen von Menschen? Wie geschieht Zeit in einer Beziehung, in einem Gespräch? Das kann Theater nicht beantworten, deshalb machte Bondy genau darüber - Theater. Jenseits aller Ismen. Skizzen, Berührungen, Entfernungen, Atmosphäre. Theater als ein lichtdiffuser Seelenboden, auf den all das Gewichtige gesunken war - aber nun, unter Bondy, trieb es, bei leichter Strömung also, Zentimeterchen über dem Sande. Die Welt wurde Bild - und war dann wie: vom Kinde verweht.

An Berlins Schaubühne, die er 1985, nicht mal vierzig, vom grollend abziehenden Peter Stein übernahm und nur drei Jahre führen konnte, weil der Krebs, der ihn seit frühen Zeiten verfolgte, böse seine Rückkehr meldete - an Berlins Schaubühne wurde Bondy zum Regisseur vor allem von Botho Strauß. Kein Dichter wie dieser hat so unverwechselbar die Erotik menschlicher Verhältnisse umkreist, all die Narrheiten und Schrecknisse von Findung, Bindung, Trennung. Präzis und poetisch erzählend, wie die Verlustanzeigen von sich behaupten, sie seien die Welt. Sie sind die Welt. In uns.

Für diese Wahrheit ist Bondy stets der leichtluftigste Regisseur gewesen. Ein Künstler ohne Gesinnungsbarrieren. Man hat ihn den Mozart des Schauspieltheaters genannt, einen Verfeinerer. Bondys Theater hätte gelitten, wenn es sich hätte prononciert einordnen müssen in einen Sinnkanon. Vielleicht plagte diesen kleinen, schmächtigen, wirbligen Künstler, der ständig am Handy hing, »nur« eine hochnervöse Neugier auf die jeweils andere Seite einer Erscheinung. Man hat den Literaturverrückten nie ohne Buch gesehen, und auf das Geheimnis seiner Regie angesprochen, sagte er: »Meine Methode, das bin ich.« Er sei deshalb so inspirierend, meinte einer seiner Lieblingsschauspieler, Michel Piccoli (Ibsens Borkmann in Paris), weil er in der Kunstausübung stets so faszinierend persönlich sei und bleibe.

Bondy, geboren 1948 in Zürich, war der Sohn des Publizisten François Bondy. Dessen Vater kannte Kafka. Kindheit in der Schweiz. »Geschminkte Clowns fand ich nie komisch, nur solche in Zivil.« Internatsjahre in den Pyrenäen, in einer Schule für begabte »Schwererziehbare« (»die Schule war spartanisch, zwischen Calvinismus und Kommunismus«). Erste Regieversuche als junger »Mythomane« in Hamburg, Abstecher in die Provinz, die guten Jahre an der Schaubühne. Dann die Oper. Paris, Brüssel, Wien, Salzburg. Die Vorliebe für Ophüls und Lubitsch, Schnitzler, Strindberg. Die Wiener Festwochen leitete er mit immerwährend großer Lust aufs Genie Castorfs, der regelmäßig dort inszenierte. »Wo war ich?« hieß sein literarisches Debüt; Kurzprosa, die er »Einbildungen« nannte.

In Wien sah ich seinen Horváth (»Figaro lässt sich scheiden«, mit Gert Voss, Anne Tismer), und ich sah Menschen ihre eigene Angst in fremden Ängsten verstecken. Ich sah seine Tschechow-»Möwe«, mit Anna Wokalek, August Diehl, Gert Voss, Jutta Lampe, und ich sah verzweifelt Heitere, die im sinnlosen Sinn leben, und andere, die sich heiter verzweifelt durch eine sinnvolle Sinnlosigkeit schlagen. Ich sah »Lear« mit Gert Voss und Birgit Minichmayr, und ich sah der Weisheit wirklich letzten Schluss: einen wehen Rest Leben, der plötzlich Helle wird, wenn man sich nichts mehr vormacht und sich nichts mehr vormachen lässt.

In Bondys besten Arbeiten konnten Herbstblätter blühen; es entschwebte nichts ins leblos Edle, aber es stürzte auch nichts ab in den Hokuspokus. Auferstehungen ganz ohne Ordnung. Wie er’s machte? »Auf das Wesentliche stößt man zufällig.« Er überwand eine Kokainsucht, war zuckerkrank, und wie gesagt: der Krebs - und doch erschien das Augenblicksfestliche seines Theaters nicht als Ausdruck einer plötzlich und verzweifelt aufflammenden Not, einer heftigen Besinnung unterm Krankheitsschatten des Todes. Nein, das Hingebungsvolle im Momentanen kam aus den Urgründen einer dauerhaft liebenden Natur, die zu ihrer Erfüllung nichts Fernes, Größeres, Aufschiebbares benötigte. Einfach nur: täglich da sein, zu sich selber gut sein. In dem Punkt war Bondy, dieser großartige Kompositeur des Dazwischen, stets ein klarer Realist: Er wusste sehr wohl, dass im Kalender kein Morgen eingetragen ist.

Nun ist Luc Bondy, der seit einigen Jahren des Pariser Odeon-Theater leitete, im Alter von 67 Jahren gestorben.

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