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Ein Morgenlandfahrer

Klaus Bellin wird achtzig und beschenkt uns mit seinem «Bankett für Dichter»

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Leben ist kurz, und es wird im Jenseits keiner nach der Zahl der Bücher gefragt, die er bewältigt hat.« Bei dem Bücherkosmos, den Klaus Bellin bewohnt, weiß man nicht so genau, ob er diesem Satz des vom ihm immer wieder gelesenen - und bewunderten - Hermann Hesse nun tatsächlich zustimmen würde. Vielleicht mit jenem leichten Zögern, das den geistigen Menschen auszeichnet. Wo andere Kritiker mit geschärften Meinungen wie mit Beilen zuschlagen, ist bei ihm jene subtile Nachdenklichkeit, die nicht richten will, sondern lesend an den Erfahrungen des Schreibenden teilhat. So entsteht ein nie abreißendes Gespräch von Lesern und Autoren über die Zeiten hinweg. Glücklich, wer so tief verwoben darin ist wie Klaus Bellin!

Über ein halbes Jahrhundert bespricht er nun bereits Bücher, lässt uns, früher seine Hörer (er war viele Jahre Rundfunkredakteur), dann seine Leser - erst der »Weltbühne« und der »Neuen Deutschen Literatur«, nun seit langem auch des »neuen deutschland« - daran teilhaben.

Natürlich weiß Bellin, dass der eingangs zitierte Satz des passionierten Lesers Hesse nur das Sprungbrett für einen dann folgenden war, auf den er als der stilsichere Dramaturg eigener Bekenntnisse hinarbeitet. Erst wird der Maßstab der Quantität, das bloße Bücherverschlingen als einem echten Leser unwürdig zurückgewiesen, dann kommt das Eigentliche ins Spiel: »Man soll vom Lesen, wie von jedem Schritt und Atemzug im Leben, etwas erwarten, man soll Kraft hingeben, um reichere Kraft dafür zu ernten, man soll sich verlieren, um sich bewusster wiederzufinden.«

Was hier über die »Magie des Buches« gesagt wird, ist auch der Leitstern im Leben Klaus Bellins bis heute geblieben. Da liest jemand tatsächlich Goethe, Thomas und Heinrich Mann immer wieder - und ebenso das, was über sie geschrieben wird. Er liest es wie ein Entdecker, der zum ersten Mal unbekanntes Terrain betritt. Darum tritt das, was er von seinen Leseexpeditionen zu berichten hat, nie mit der routinierten Attitüde des vom Leben und Lesen gelangweilten Rezensenten auf, sondern besitzt den Mut, sich hinzugeben an das, was er liest. Dem Akademiker, der sich längst jede unmittelbare Regung verboten hat, mag eine solche Haltung naiv erscheinen (unzeitgemäß ist sie gewiss), aber es findet sich darin jener immer noch schillernde Glanz von Hermann Hesses Morgenlandfahrern, die ihrem Traum folgen, jederzeit bereit, sich beeindrucken zu lassen und unbeeindruckt sind nur vom Gelächter der sich allzu abgeklärt gebenden Bescheidwisser.

Bereits vor zehn Jahren hat Klaus Bellin eine Sammlung seiner Aufsätze und Essays unter dem Titel »Augenblicke der Literatur« vorgelegt, 2010 im Verlag für Berlin-Brandenburg erschien dann »Es war wie Glas zwischen uns. Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky«. Dieser Band zeigte ihn auch als meisterlichen Biographen, mit feinem Sensorium für die atmosphärischen Spannungen im Leben eines schöpferischen Menschen - und jenen, die von diesem betroffen sind, seine Familie, die Frauen vor allem, die dem Werk geopfert werden.

Nun ist, pünktlich zu seinem achtzigsten Geburtstag, wiederum im Verlag für Berlin-Brandenburg, der Sammelband »Bankett für Dichter - Feuilletons zur Literatur« erschienen. Als Klaus Bellin noch Redakteur der »Weltbühne« war, das war Anfang der neunziger Jahre, und ich meine ersten Texte in die Redaktion zu ihm trug, erklärte er mir - mit Tucholsky natürlich - die Kunst des Feuilletons als »Lockendrehen auf der Glatze«. Irgendwie habe ich dieser, in die Welt eines Friseurladens vertriebenen Metapher von der Schöpfung aus dem Nichts nie recht getraut. Man denkt sich nicht einfach etwas aus, man denkt dem nach, was schon vorher da war - man schöpft auch nie wirklich aus dem Nichts.

Klaus Bellin gehört einer wohl aussterbenden Spezies an: jener der Ermöglicher, die hinter fremdes Werk zurücktreten, Propheten fremden Genies oder auch nur eines speziellen Talents sind, das nicht unbemerkt bleiben sollte. Aber diese Mission setzt einen Leser voraus, der an das Buch glaubt, in Worten mehr erkennt als bloße Informationsträger. An dieser Mission, so ist zu befürchten, wird wohl nicht nur Bellin zum Don Quichotte: ein Fluchthelfer aus dem allzu Wirklichen in jene Regionen des Möglichen, die in der Phantasie beheimatet sind. Hier muss man sie suchen, wie jene Reichtümer, die man zwar mit leeren Taschen davontragen kann, aber niemals, ohne Mühe und Aufmerksamkeit an sie zu verwenden!

So ist es, wenn man »Bankett für Dichter« liest: Man wird beschenkt, aber man muss sich um das Geschenkte auch bemühen, sich einfühlen in fremdes Leben, sich dem anverwandeln, was einem oft genug fern zu liegen scheint, bis das Menschlich-Allzumenschliche, die ewige Tragikkomödie des Lebens, auch im eigenen Antipoden nahe rückt.

Insgesamt 52 Miniaturen über Leben und Werk bekannter wie weniger bekannter Autoren versammelt Bellin zum Bankett - oft sind es auch Dichterpaare oder durch Briefwechsel Verbandelte, mitunter sogar tief in Hassliebe Verstrickte wie Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und sein unaufhörlich Geldforderungen stellender Autor Thomas Bernhard, die uns hier begegnen: »Bernhard ist unerbittlich. Schon die erste Begegnung im Januar 1965 endet in einer Erpressung. Unseld hat hohes Fieber, man redet über Reisen, Orte und Personen und steht nach einer halben Stunde schon kurz vor dem Abschied, wenn Thomas Bernhard plötzlich vierzigtausend Mark verlangt, weil er in Österreich einen Hof kaufen will. Er bekommt das Geld und reist hochzufrieden wieder ab.« Aber es dauert nicht lange und er hat neuen Geldbedarf. Hier versteht man Heinrich Mann, der sagte: »Der ideale Künstler wäre ein Ungeheuer.« Aber warum sollen eigentlich nur Verleger Autoren ausbeuten und nicht umgekehrt? In dieser Welt der Dichtung, die zum Markte getragen wird, braucht starke Nerven, wer sich in all dem Gefeilsche noch die Energie bewahren will, ein großes Werk zu schaffen.

Brecht allerdings scheint damit keine Probleme gehabt zu haben, er kann sich um Autoversicherungen und neue Stücke gleichzeitig kümmern, eins geht ihm immer ins andere über und wozu gibt es die vielen hilfreichen Frauen, die sich von einem Genie wie ihm allzu gern ausbeuten lassen? Über den Briefwechsel mit Helene Weigel heißt es bei Bellin: »Lange, über viele Jahre hinweg, spricht hier nur einer: Brecht.« Der Preis, den das Werk fordert, ist hoch: Auch an menschlicher Zuwendung mangelt es. Der berufsmäßige Schöpfer ist in der Regel egoman und jenen menschlichen Dingen gegenüber, die er in seinem Werk doch mit jeder Nuance genau zu schildern vermag, überaus desinteressiert. Ein kaltes Scheusal - über wen kann man das sagen? Über wen eigentlich nicht? Brecht, Benn, Becher, Canetti, Mann (alle drei: Thomas, Heinrich, Klaus) - man möchte ihnen nicht gern ausgeliefert sein.

Aber Klaus Bellin ist ein Anwalt nicht nur der Literatur, auch der Autoren mitsamt ihren Defekten und Dämonien. Was ihn dazu befähigt? Er liebt sie, also verzeiht er - und führt doch akribisch Protokoll über menschliche Höhen und Tiefen. Auch er ist schließlich bei allem Dienen fremden Werks ein Autor, der für eine gelungene Formulierung einiges hinnimmt.

Da sind Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Ein seltsames Paar. Für beide zusammen scheint die Schweiz zu klein. Man versucht anfangs mit gegenseitiger Freundlichkeit, sich aus dem Feld zu schlagen. Der überlieferte Briefwechsel ist schmal, mit jahrelangen Pausen. Man missgönnt dem andern schlicht alles, gerade darum, weil man besser als andere begreift: Da ist auch ein Großer. Also straft man ihn mit Schweigen. Ein letztes Mal versucht Dürrenmatt 1986 mit einem knappen Brief, Max Frisch zu etwas zu bewegen: »Ich habe Dich in vielem bewundert. Du hast mich in vielem verwundert und verwundet haben wir uns auch gegenseitig. Jedem seine Narben.« Frisch gönnt ihm keine Antwort.

Klaus Bellin hat nicht nur einen Sinn, auch eine Sprache für derartige Unlösbarkeiten, diese fortgesetzten Selbstgefangensetzungen von Dichtern, die offenbar den Schmerz immer erst in sich erzeugen müssen, der sie zur Arbeit treibt. Über Christian Morgenstern, diesen unglücklichen Ritter in der Nachfolge von Nietzsches Zarathustra, den er vergötterte und sich dennoch - oder gerade deshalb - in Aberwitz flüchtete, lesen wir den schönen klaren Satz, um den ich Klaus Bellin selbstverständlich beneide: »Da blickte einer mit erstaunten Kinderaugen und skurrilem Lächeln in eine verkehrte Welt.«

Klaus Bellin, Bankett für Dichter - Feuilletons zur Literatur. Verlag für Berlin-Brandenburg, 240 S., geb., 18,99 €.

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