nd-aktuell.de / 14.12.2015 / Kultur / Seite 16

Wenn es ans Ende geht

DDR-Dramatik: Lesereihe am Berliner Ensemble - »Nachtwache« von Manfred Bieler

Hans-Dieter Schütt

In stillster Nacht, bei einem Blick in den Sternenhimmel, kommt das Sehen dem Hören am nächsten. Dies Wunder gelingt höchstens noch - der Musik. Bach am ehesten. Schauen beim Lauschen. Ein Hören, bei dem dir kein Sehen vergeht. Es gab eine Zeit, da dachte, wer so dachte, auch an - Hörspiele. Eich und Aichinger, Kunert und Hildesheimer, Rücker und Bachmann. Und Manfred Bieler.

Weit zurückliegende Zeit. Kaum noch erinnerlich - in dieser jetzigen Zeit, da der Zeitvertreib vom Bild beherrscht wird. Dessen Auswüchse uns bestürmen wie ein Schneetreiben, von dem unser Winter nur noch träumen kann. Der Mensch mit dem Buch in der Hand, so hat der Dichter Hugo von Hofmannsthal einst gemeint, sei die Geste einer (längst verstrichenen) Ära. So, wie der Knieende mit gefalteten Händen, so Botho Strauß, wiederum die Geste einer noch früheren Ära war. Derart kommen und vergehen die Zeichen jedweder Zeit. Nunmehr geht alles zur Tastatur - für den User der blinkenden, flirrenden Netzwerke.

Hörspiel? Das bleibt des Lauschangriffs friedliche Umkehr. Schön deshalb, dass mal wieder der Name Manfred Bieler fällt. Der 1934 im anhaltischen Zerbst Geborene schrieb »Karriere eines Klaviers«, »Drei Rosen aus Papier«. Poesie im Profanen. Der Alltag als des Menschen wahres Universum, darin er von Entfernung zu Entfernung Nähe sucht, Liebe. Und sie findet und damit für die komischsten und traurigsten Momente sorgt.

In der Lesereihe des Berliner Ensembles, die vergessene oder verbotene DDR-Dramatik vorstellt (Leitung: Manfred Karge, Hermann Wündrich), wurde jetzt eines der beiden Stücke präsentiert, die Bieler fürs Theater schrieb: »Nachtwache« von 1964. Das andere, »ZAZA« (Zentralamt zur Aufbewahrung verdienter Genossen) wurde mit der Maßgabe verboten, sämtliche Textkopien zu vernichten. Bieler, beizeiten schon aus dem Schriftstellerverband verstoßen, geht nach Prag, wechselt nach 1968 in die Bundesrepublik. Er stirbt 2002 in München.

Bieler schrieb auch das Drehbuch zum DEFA-Film »Das Kaninchen bin ich«, Wolf Biermann würde bald singen »Sindermann, du blinder Mann«, denn dieser damalige Leiter der Abteilung Agitation beim ZK der SED prägte in tumber Stempellaune den denunziatorischen Begriff von den »Kaninchen«-Filmen - jenen Kunstwerken, die vom Kulturplenum der Partei im Dezember 1965 gemaßregelt und verboten wurden. Als gelte es, die Praxis der Schauprozesse zu beleben.

Am BE nun also: »Nachtwache«. Elf Schauspieler. Roman Kaminski liest den Genossenschaftsbauern Albert, der kurz vor seinem Tode noch einmal Leute des Dorfes besucht. Bielers Ortsangabe, von Szene zu Szene: »Kleiner Raum«. Das ist und bleibt des Menschen wahrer Aufenthaltsort, auch wenn er sich einbildet, eine Welt zu verändern. Aber mehr als kleine Räume übersieht der Mensch nicht - der kleinste Raum jedoch reicht aus, um Tragödien zu stiften oder Tränen zu trocknen. Albert sorgt sich in letzter nächtlicher Gesprächssuche um Wasserleitungen, er versöhnt, er tröstet, er rüttelt wach. Er bezahlt beim LPG-Gärtner Blumen lange im voraus - für eine Frau, die immer noch glauben möchte, sie kämen von jenem Mann, der sie doch nie liebte. Klar: Albert stört. Wie jeder, der hilft und Wahrheit will. Der Parteisekretär schreibt Berichte - red lieber mit den Leuten!, rät Albert.

Ein Stück über die Weisheit, die uns ankommt, wenn’s ans Ende geht. Freundlichkeit als letztbeschworenes Gebot, in einer Gesellschaft, die doch von Grund auf freundlich sein wollte, sollte. Albert als der gute Geist, der als Sonderling gelten muss, weil er das Selbstverständliche aufruft. Den Eigensinn als Basis des Gemeinsinns. Gefühlskurvenlust statt Linientreue. Roman Kaminski auf Alberts Nachtstationen: von einer lauteren List, von bewusst nervender Geradlinigkeit, von schlagfertiger Zurechtweisungskraft.

Am Schluss erzählt er die Geschichte von den Säuglingen im Wochenheim, die friedlich einschlafen, wenn ihnen vom Tonband Herztöne vorgespielt werden. »Vielleicht erinnern sie sich an den Ton, sie sind ja noch nicht lange auf der Welt.« Säuglinge, Wochenheim, das sagt so viel über eine Gesellschaft, die in erster Linie Arbeitsgesellschaft sein muss. Auch für, gegen die Mütter. Emannzipation, und die Säuglinge derweil kollektiviert: Der mütterliche Herzton kommt über die technische Konserve, die alle meint. Das Urgeräusch der Liebe: eine frische Erinnerung - weil man noch nicht lange lebt. So wirkt der Anfang des Lebens nahezu schön. Aber unnatürlich.

Aller Anfang sei schwer? Ein Satz von Leuten, die das Ende nicht kennen. Albert geht um, in seiner letzten Nacht. So begütigend, so märchenhaft beinahe - als sei das Leben eine Instanz, die vom Tode freispricht, wenn man alle ihre Fragen redlich beantwortet.