»Ich lerne sehen«

Peter Gosses poetische Betrachtungen finden Offenbarung in bildender Kunst

  • Horst Nalewski
  • Lesedauer: 4 Min.

Dieser Dichter darf sich »seinen Bildnern« zugehörig fühlen, stammen sie doch von der »Innung der Freunde«. Allesamt seien sie »in die Leipziger Tieflandsbucht heimatlich eingesenkt«. Maler und Grafiker, denen er seine Texte widmet, wissend, wie sehr es der schöpferischen Anstrengung bedarf, Wirklichkeit in Kunst zu »keltern«, ja: zu pressen, auf dass sie bedrängend wird und uns, den Lesenden und Betrachtenden, eine Prämisse des Anschauens abverlangt. »Kunst-Deutung vermag der Kunst leidlich gerecht zu werden allein, wenn sie sich nicht in seziererischem Entblößen gefällt«, so Peter Gosse. Statt Offenlegung gilt die »Offenbarung.«

Offenbarung - dieses Erleben grundiert Gosses innersten Bezug zur bildenden Kunst: Bewunderung, Betroffenheit. Nietzsche hat »Offenbarung« einmal so umschrieben: »dass plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im tiefsten erschüttert und umwirft.« Offenbarung: das Vermögen großer Bilder, großer Musik.

Im Hintergrund besagter »Freunde« stehen jene, die über Leipzig hinaus anhaltende Bedeutung in der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangten: Werner Tübke, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer. Die hier vorgestellten Künstler bekennen sich zu solcher Tradition und setzen sich aufklärerisch und voll Ingrimm denen gegenüber, denen es um »Show, modisch einkömmliche Effekthascherei« geht, letztlich um das »Ruhigstellen der Bevölkerung ... durch unsägliche Werbeplattheiten: hochgestapelte Schemel, millionenteure zerkratzte Fotos«. Gosse scheut sich nicht, Namen zu nennen: Andy Warhol, Ai Weiwei, Gerhard Richter ... oder sie in dem Ein-Seiten Nachwort zu umschreiben: »Einer derzeit unartigen Welt geläufig zu werden vermittelst zufallsgenerator-bestimmter Farbflächen in Domfenstern, in Formalin versenkten Rindes oder Kopfüber-Porträts - dafür sind sie zu anständig.« Die »Neun«: Gerhard Kurt Müller, Sighart Gille, Rolf Münzner, Volker Stelzmann, Karl-Georg Hirsch, Ulrich Hachulla, Joachim Jansong, Rolf Kuhrt, Baldwin Zettl. Und nicht zu vergessen der Leipziger Typograph Gert Wunderlich.

Werden durch des Poeten Assoziationen die Bilder beziehungsreicher? Das Rilke-Wort aus dem »Malte« wird zitiert: »Ich lerne sehen«.

Ein hinreißender Farbholzschnitt von G. K. Müller, »Flamenco«, der fünf Verse des Dichters Wort für Wort der ekstatischen Tänzerin in Rot-Schwarz implantiert, eröffnet das Bändchen. Der handschriftliche Brief des Künstlers verweist nun freilich in einer entscheidenden Passage auf die unterschiedlichen Intentionen des Bildners und des Worte-Finders: »Dein feiner Text ... Wiederholtes Lesen brachte mich darauf, dass Du eher (und zu Recht!) pro domo geschrieben hast als über meinen Holzschnitt. Die Hauptaufgabe, die ich künstlerisch zu lösen versuchte, findet bei Dir kaum Resonanz.«

Das mag für die Auslassungen des Poeten auch hinsichtlich der anderen Bildnisse Gültigkeit haben. Gosse nimmt das lachend zur Kenntnis und beharrt auf seinen Ein-Sichten.

In S. Gilles handkolorierter Grafik »Don Quijote« glaubt er in das Antlitz des Ritters von der Traurigen Gestalt noch ein anderes Antlitz »hineingemogelt«: das Richard Wagners! Beide sieht er als »Brüder im Geiste«, gelte es doch, »den Betrübten, Gefesselten und Unterdrückten beizustehen«.

Ist es Überschwang der Bewunderung oder eben doch »Offenbarung«, wenn er K.-G. Hirsch zu dessen 75. schreibt: »Du ... entgrenzt uns Staunende … in jene immateriellen beseelenden Bezirke, die - nach der schönsten Erfindung des Menschengeschlechts - diejenigen Gottes heißen.« Akzeptabel auch für den Ungläubigen?

Dem Literaturkundigen wird U. Hachullas Hinwendung zu Goethes »Erlkönig«, den Gosse lieber »Elfenkönig« genannt wüsste, fünf Blätter auf schwarzem Papier in Strichätzung, wohl Schrecken einjagen. In fünf Jahren »existentieller Verunsicherung«, 1991-1995, suchte der Künstler einer Bedrängnis Herr zu werden. In der Bild-Geschichte von Vater und Sohn gelingt es nicht. Das Gespenstische obsiegt. »Das Apokalyptische hat statt.«

Den Abschluss des Bändchens - es ist der umfangreichste Beitrag - widmet Gosse mit begleitenden Worten sowie Bildern einer Ausstellung Baldwin Zettls in der Storm-Stadt Heiligenstadt. Abermals eine Fülle erhellender Assoziationen zu Zettls Kupferstichen zur, ja: Weltliteratur. »Er scheint Ernst Blochs Diktum eingedenk zu sein, dass von Dauer - also zeitlos - sei nur, wer sich in seine Zeit einlässt, also unsere Zeit. Das tut dieser Mann, und wie er es tut!« Eine Verbindung von »Selbstversunkenheit« und »Weltversessenheit« - das kann wohl auch für den Dichter gelten.

Poetische Texte und über 40 Abbildungen: Leser und Betrachter werden einigermaßen angestrengt; allein der Gewinn ist immens, letztlich beglückend.

Peter Gosse: Aus der Innung der Freunde. 9 1/2 Blicke in sächsische Kunst-Keltern. Taurus Verlag Leipzig. 82 S., geb., 25 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal