Flucht vor der Romantik

Schönbergs »Verklärte Nacht« im HAU2, choreografiert von Anne Teresa De Keersmaeker

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein tanzender Mensch erzählt immer irgendeine Art von Story, sagt Anne Teresa De Keersmaeker, denn ein tanzender Körper sei stets mehr als bloße Form und drücke daher zwangsläufig etwas aus. Sie sei von Natur eine romantische Person, gesteht sie im selben Interview, habe in ihren choreografischen Annäherungen dennoch einen Bogen um die Romantiker gemacht. So ist Belgiens bedeutendste Tanzschöpferin, nach Annäherungen an Beethoven, 1995 bei Arnold Schönberg angekommen - allerdings bei einer noch vom Geist der Romantik durchwehten Komposition. Schönbergs 1899 ursprünglich als Streichquartett entstandene »Verklärte Nacht« hält sich in den fünf Teilen eng an ein wenige Jahre zuvor veröffentlichtes Gedicht Richard Dehmels, darin beim nächtlichen Spaziergang die Frau dem Mann gesteht, sie erwarte ein Kind - doch nicht von ihm. Aus tiefer Liebe vergibt ihr der Mann, nimmt das Kind als seines an und setzt, wohl über den mondbeschienenen Pfad hinaus, den gemeinsamen Weg fort.

Damals, vor zwei Jahrzehnten, schuf De Keersmaeker nach jener Komposition, indes der Fassung für Streichorchester, für ihre Gruppe Rosas eine Choreografie mit sechs Paaren. In der neuen Version, die sie derzeit im HAU2 zeigt, kehrt sie zu Dehmels Konstellation zurück: Im Zentrum steht der Dialog des Paares. Als Zutat setzt sie ihm die Begegnung der Frau mit dem anderen Mann voran, als kurzes Zwischenspiel mit Folgen. In der Stille und ganz am Rande treffen sie zusammen, vollziehen in mattem Lichtkegel fast rüde den Akt.

Mehr Licht erhellt auch das Duo nicht. Das ereignet sich großenteils auf der Diagonalen, erst ebenfalls in der Stille, ehe die sinfonische Musik einsetzt. Da hat sich die Frau bereits mehrfach dem Arm ihres Mannes entwunden, als fliehe sie die Gemeinschaft mit ihm, der lange abgewandt und wartend steht. Sie kniet, läuft zu ihm, schmiegt sich an ihn, entweicht wieder, macht sich erneut Mut, tanzt raumfüllend und voller Stürze, bis sie an den Arm des Partners zurückfindet.

Jeglichen erzählerischen Gestus, wie man ihn aus zahlreichen Choreografien dieser häufig für Tanz adaptierten Musik kennt, vermeidet De Keersmaeker, bedient auch nicht die Struktur der Komposition. Und erst recht gibt es keinerlei pantomimische Elemente. Frei entwickelt sich das Geschehen, rein aus dem Schwung der Bewegung, den Ansprüngen, Spiralen, ausgekosteten Schleuderhebungen, dem Zusammenprall zweier Individuen, die einander in Liebe verbunden sind und trotzdem etwas zu klären haben.

Lange ist es die Frau, von der im schlechten Gewissen und aus Unsicherheit, wie der Mann ihre Eröffnung aufnehmen wird, die Aktion ausgeht, wenn sie zerquält aus dem kurzen Miteinander ausbricht. Erst als er das Gehetztsein seiner Frau bemerkt, reagiert er, wendet sich ihr zu. Verunsichert und verlegen tanzt die Frau, in Formen wie Selbstverteidigung, obwohl der Mann keine Attacke gegen sie startet. Annäherung und Flucht sind die Pole ihrer Aktivität.

Dann aber greift der Mann ein, fängt sie aus dem Sprung nach weitem Anlauf auf, legt sie neben sich, wird eins mit ihr. Da gerät der Tanz synchron, bündelt beider Wollen. Erleichtert streift sie ihm das Sakko ab, das dialogische Duo kommt in Fahrt, bis er die Frau zart mit dem Sakko zudeckt. Nochmals flammt der Tanz auf, er rollt dabei über ihren Rücken ab, sie bettet im Liegen den Kopf auf seinem Arm. In einem sanften Solo deutet der Mann seine Gefühle an; sie aber verlässt die Szene. Im erlöschenden Licht bleibt er zurück - überraschend dieser Schluss.

Strikt behauptet der Tanz gegenüber der Musik sein Eigenleben, trifft sich nur selten mit ihr. Den Spannungsbogen zeichnet er auf unabhängige Weise nach und macht in ganz eigenständiger Assoziation die Dramatik des Paares sichtbar. Den Interpreten stellt das fordernde Aufgaben. Auf Nordine Benchorf als Frau im schlichten lachsfarbenen Kleid fällt der Hauptteil an emotionaler, dabei zurückhaltender Gestaltung aus der rein tänzerischen Bewegung.

Bis 19.12., HAU2, Hallesches Ufer 32, Kreuzberg, Tel.: (030) 259 004 27, www.hebbel-am-ufer.de

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