Computer sind 
keine Dampfmaschinen

Die angeblich rasante technische Entwicklung schlägt sich 
nicht in gesteigerter Arbeitsproduktivität nieder

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 7 Min.

Aus der Sicht von Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology erleben wir gerade die Anfänge eines »zweiten Maschinenzeitalters«. So der Titel seines Buches (»The Second Machine Age«), das inzwischen auch in Deutsch vorliegt. Doch wer aus dem neuen Maschinenzeitalter einen rasanten Anstieg der Produktivität ableitet, gar im zweistelligen Bereich, sieht sich enttäuscht. Trotz massenhaften Einsatzes von PC, Smartphone und Software wächst die Produktivität seit Jahren kaum noch. Dabei ist die Arbeitsproduktivität eine entscheidende Voraussetzung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft, für Wohlstand und Löhne.

Und kleine Unterschiede im Produktivitätswachstum haben erhebliche langfristige Wirkungen. Dies zeigt ein an hiesigen Universitäten gern benutztes Rechenbeispiel: Ein jährliches Plus von zwei Prozent verdoppelt die Wirtschaftsleistung in 35 Jahren - liegt die Zunahme nur bei einem Prozent, dauert die Verdoppelung 70 Jahre.

»Technische Entwicklung wird nicht gemessen«, sagt Bettina-Johanna Krings dem »nd«. In der Praxis wäre das unmöglich. Und doch sieht sie revolutionäre Prozesse. Krings leitet den Forschungsbereich Wissensgesellschaft und Wissenspolitik am renommierten Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe. Die technische Entwicklung habe in jüngster Zeit Produktion und Arbeit stark verändert. Vor allem die Vernetzung durch das World Wide Web sei »fast eine Revolution« und bilde die Grundlage für rasante Globalisierungsprozesse: »Im Ergebnis dieser technischen Revolution werden die Arbeitsprozesse weiter aufgespalten, rationalisiert, intensiviert und irgendwo auf der Welt durchgeführt.« Diese Arbeitsteilung habe Karl Marx beschrieben und ihre Folgen im Kapitalismus vorhergesehen, sagt Krings. Bereits in seinen frühen Werken wie der »Deutschen Ideologie« - lange vor dem »Kapital« - dachte Marx über Technik, Arbeitsteilung und die Herausbildung von Klassen in der Gesellschaft nach. Dieser Prozess der Arbeitsteilung, so Krings, habe seit den 2000er Jahren auch nahezu alle Dienstleistungsberufe erfasst, selbst hoch qualifizierte Berufsprofile.

Doch schon als vor drei Jahrzehnten die ersten Computer in Büros und Fabriken installiert wurden, wunderte sich der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow über kaum messbare Auswirkungen: »Man kann das Computerzeitalter überall sehen, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken.«

Konkret geht es um die sogenannte Arbeitsproduktivität. Darunter versteht man das Produktionsergebnis je geleisteter Arbeitsstunde. Anders ausgedrückt: Das, was ein Erwerbstätiger in einer Arbeitsstunde produziert, nennt man Arbeitsproduktivität. Aufgrund des technischen Fortschritts, der von naturwissenschaftlichen und technischen Erfindungen bestimmt wird, steigt die Arbeitsproduktivität in unserer Wirtschaft ständig, schreibt Hermann Adam in seinem Lehrbuchklassiker »Bausteine der Wirtschaft«. In einem typischen Beispiel wählt Adam wohl nicht zufällig einen üppigen technischen Fortschritt von zehn Prozent. Das bedeute: Es ist möglich, mit derselben Zahl von Arbeitskräften mehr zu produzieren oder, was dasselbe ist, die gleiche Menge mit weniger Arbeitskräften zu erzeugen.

So weit die Erwartungen, die so oder ähnlich seit Marx’ Zeiten geradezu zum Gemeingut linker Ökonomen und Sozialwissenschaftler gehören. Doch solche Erwartungen eines rasanten technischen Fortschritts mit den entsprechenden Folgen für Arbeit und Kapital wollen nicht recht zu den volkswirtschaftlichen Daten passen.

Stieg die Produktivität in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten noch mit durchschnittlich 2,8 Prozent pro Jahr, so halbierte sich diese Rate nach dem Ölpreisschock 1973. In den 90er Jahren - die massenhaften IT-Investitionen wirkten sich zeitweise realwirtschaftlich aus - und bis 2005 gab es noch einmal einen Anstieg, schreibt der Volkswirt Philip Plickert in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Aber seither und somit schon vor der großen Finanz- und Wirtschaftskrise flachte die Kurve wieder ab. Zuletzt sei die Chartlinie sogar gefallen.

Eine ähnliche Entwicklung kann aus den vorhandenen Zahlen des Statistischen Bundesamtes herausgelesen werden. Zuletzt, in den Jahren 2013 und 2014, ging danach auch in Deutschland die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen zurück! International stellen diese rückläufigen Entwicklungen keinen Sonderfall dar. »Für nahezu alle großen Industrieländer«, schreibt der Sachverständigenrat in seinem kürzlich veröffentlichten Jahresgutachten 2015/2016, »war spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre ein Rückgang beim Anstieg der Arbeitsproduktivität zu beobachten.«

Pessimisten wie Robert Gordon von der Northwestern University in Illinois sehen denn auch in Computern und Internet keine »Allzwecktechnik«, welche die Wirtschaft umkrempelt, wie es im 19. und 20. Jahrhundert die Dampfmaschine, Chemie und Elektro, Auto und Flugzeug taten. Und das, was die neue IT-Technik bewegt, wird zumindest statistisch ausgebremst von der Alterung der Gesellschaft, mangelhaften Bildungssystemen, gestiegener Ungleichheit und Nachfrageschwäche.

Optimisten halten dagegen: Es dauere Jahrzehnte, bis die neue Technik die ganze Wirtschaft durchdringe und sich im Bruttoinlandsprodukt (BIP) merklich niederschlage. Andere Technikoptimisten sehen Messfehler in der Statistik des BIP. So würden viele Dienstleistungen im Internet nicht mitgezählt, weil sie kostenlos seien.

Ein Aspekt wird meistens auch von jenen Optimisten übersehen: das Problem der Großen Zahl. Je entwickelter eine Volkswirtschaft ist - je höher also der Grundwert -, desto mehr BIP steckt in einem Prozentpunkt Wachstum. Wächst die deutsche Wirtschaft prozentual von diesem hohen Grundwert aus um »nur« ein Prozent, ist dies in absoluten Zahlen ein sehr hoher Milliarden-Euro-Betrag. Der gleiche Betrag hätte in den 50er Jahren für eine zweistellige Wachstumsrate ausgereicht. Entsprechendes gilt für die Arbeitsproduktivität in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaftsformationen.

Ein vielleicht entscheidender Grund für die lahmende Produktivität sind fehlende Investitionen. Technische Möglichkeiten können nur ausgeschöpft werden, wenn auch in neue Maschinen und Arbeitsprozesse investiert wird. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 bis 2009 hat die globale Investitionstätigkeit zwar nach den Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln insgesamt kräftig zugenommen. Das gilt allerdings vornehmlich für Schwellen- und Entwicklungsländer. Zudem sei das Vorkrisenniveau vielerorts noch nicht wieder erreicht. Und im Jahr 2015 werden die weltweiten Investitionen »voraussichtlich sogar sinken«.

Schaut man allein auf die entwickelten Volkswirtschaften, ist ein langläufiger Megatrend zu monetären Investitionen auf den Finanzmärkten unverkennbar. Darauf hatte der Finanzmarktexperte Jörg Huffschmid bereits in den 90er Jahren in seiner »Politischen Ökonomie der Finanzmärkte« hingewiesen. Er wird jetzt unterstützt vom Chefökonomen der staatlichen KfW-Bank, Jörg Zeuner, der eine »Verschiebung zugunsten der Geldkapitalbildung« konstatiert. Seit 2002 wird in Firmen durchgängig netto mehr gespart (Geldkapital gebildet) als investiert (Realkapital gebildet).

Die »Revolution« schlägt sich nicht recht in Zahlen nieder, stellte die Karlsruher Forscherin Bettina-Johanna Krings fest. Das liege an dem ungenauen Begriff der Arbeitsproduktivität, beruhigt sie, der auch von anderen Faktoren als nur der technischen Entwicklung beeinflusst wird. Nach Auffassung auch linker Ökonomen vor allem von der Nachfrage nach den Produkten und der Auslastung des Beschäftigten an seinem Arbeitsplatz. So liegt die Kapazitätsauslastung der deutschen Industrie laut Deutscher Bundesbank zurzeit bei 84 Prozent. Bei einer höheren Auslastung würde »automatisch« auch die statistische Arbeitsproduktivität steigen.

Dass sich die technische Entwicklung weit undramatischer in Arbeitsproduktivität und Wirtschaftswachstum niederschlägt, als die Wirtschaft erhofft und die Gewerkschaften befürchten, hat für Professor Hermann Adam von der FU Berlin vor allem einen Grund: »Die neue Welle technischer Revolution wirkt nicht so arbeitssparend wie frühere technische Revolutionen.« Dahinter steht eine strukturelle Verschiebung weg von hochproduktiven Wirtschaftsbereichen wie dem verarbeitenden Gewerbe hin zu Bereichen mit geringerer Produktivität, wie sie in vielen Dienstleistungsbereichen zu beobachten ist. Die Wertschöpfung, also auch die Entstehung des Mehrwertes, verschiebt sich vom Produkt im engen, klassischen Sinne hin zu den Dienstleistungen rund um die Produkte. So verkauft Thyssen-Krupp zwar Rolltreppen, aber das eigentliche Geschäft besteht in der Installation, in Wartung, Reparatur und Service sowie der Entwicklung von ganzen Mobilitätssystemen in großen Gebäuden.

Dadurch nimmt der Wirkungsraum für neue Techniken ab. Innovationen wirken nur noch in relativ kleinen Teilen der entwickelten Volkswirtschaften, etwa in »der Industrie«. Deren Anteil an den Volkswirtschaften beispielsweise der Vereinigten Staaten, Großbritanniens oder Deutschlands liegt aber nur bei etwa 25 bis 10 Prozent. Die Wirkung »revolutionärer« Technik wird daher im Allgemeinen bei weitem überschätzt. Der Stuttgarter Soziologieprofessor Ulrich Dolata hat für diese entdramatisierte Sichtweise der Entwicklung von Technik und Produktivität den anschaulichen Begriff der »graduellen Transformation« geprägt. Und diese gemächliche Form des Wandels in Studien für Musik- und Internetkonzerne - beide produzieren im Zentrum der technologischen »Revolution« - verifiziert.

Die Verschiebung der Wertschöpfung weg von der reinen Technik ist jedoch nicht gleichzusetzen mit weniger anspruchsvoller Arbeit. Denken wir an Entwickler und Berater, Juristen und Finanzbuchhalter. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erwartet, dass es infolge der technischen Entwicklung in einem Jahrzehnt nur 60 000 Jobs weniger in Deutschland geben werde. Aber hinter dieser niedrigen Zahl, so Adam gegenüber »nd«, verberge sich ein qualitativer Wandel: Es werden weit weniger gering Qualifizierte einen Arbeitsplatz haben als heute und weit mehr höher Qualifizierte.

»Das ist sozialer Zündstoff«, befürchtet Adam. Denn was passiert mit den Millionen Un- und Angelernten, die heute berufstätig sind; mit den Jugendlichen, die in den kommenden Jahren aus den Schulen entlassen werden, ohne ausreichend lesen und schreiben zu können? Und was passiert mit den vielen Menschen, die neu in diesem Land sind und auf absehbare Zeit die deutsche und englische Sprache zu wenig beherrschen, um einen der neuen Jobs in den »Modernen Zeiten« auszufüllen?

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