Frankreichs Feinde sind wie Jeanne d’Arc

Am Maxim-Gorki-Theater hat Mikaël Serre Schillers »Die Jungfrau von Orleans« aktualisiert

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Pariser Regisseur Mikaël Serre inszeniert am Berliner Gorki-Theater »Die Jungfrau von Orleans«. Ein schwieriges Stück. Doch Serre geht frei mit dem Stoff um und reflektiert die französische Debatte nach den Pariser Anschlägen.

Es gilt als schwer zu spielen: Friedrich Schillers »Die Jungfrau von Orleans« wurde wegen seines nationalistischen Pathos von Intendanten oft links liegen gelassen. Derzeit allerdings findet es an deutschsprachigen Bühnen ein kleines Revival. Nach den Inszenierungen am Schauspielhaus Zürich und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg feierte am Donnerstagabend am Maxim-Gorki-Theater die Inszenierung des französischen Regisseurs Mikaël Serre ihre Premiere. Der Titel allerdings lautet: »Je suis Jeanne d’Arc. Frei nach Die Jungfrau von Orleans von Friedrich Schiller.« Auf die Betonung »frei« kommt es hier an. Schillers Text ist nur Ausgangspunkt für das, woran bereits der Haupttitel erinnert: an den Slogan »Je suis Charlie«, mit dem viele Franzosen ihre Solidarität nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« zum Ausdruck brachten. Serres Stück wird zu einer Selbstbefragung darüber, was Frankreich und den Westen eigentlich ausmacht. Und diese wurde nach den Anschlägen vom 13. November - da befand sich das Ensemble mitten in den Proben - noch einmal radikalisiert.

Zu Beginn sehen wir Falilou Seck als Roi Charles, Aram Tafreshian und Till Wonka in den Rollen von La Hire und Graf Dunois als pantominisch-lustige Dreiergruppe mit historischen Kostümteilen beieinander stehen. Während auf der kastenförmigen Bühne (Nina Wetzel) im Hintergrund vor Videoprojektionen mit Schafherden und Engeln die Schafhirtin Jeanne hockt; sie wird erst nach einer halben Stunde ihren ersten Auftritt haben. Der König ist verzweifelt, weil er sich des Einfalls der Truppen aus England nicht erwehren kann und kein Geld mehr hat. »Kann ich Armeen aus der Erde stampfen? Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?« fragt er. Hier hält sich Serre noch an Schiller, doch als Aleksandar Radenković in der Rolle des Philipp von Burgund die Sprache des niedergeschlagenen Charles mit köstlichen Darbietungen von Zungenbrechern verächtlich macht, beginnt der tagespolitische Aktualisierungs-Reigen. Etwas albern wird zunächst die Assoziation zu Charlie Hebdo geweckt. »Habt ihr Charlie vergessen, habt ihr Charlie Brown vergessen?« Klamaukiges wird in der 90-minütigen Inszenierung noch das ein oder andere Mal folgen. Etwa wenn die von Marina Frenk als blutrünstige Fanatikerin dargestellte Jeanne auf einem menschlichen Pferd in die Schlacht reitet und plötzlich brüllt: »Du bist gar kein Pferd!«

Mitunter fühlt man sich auch an MTV-Videos mit wilden Tanzperformances und lauter Musik aus den 1990er Jahren erinnert. Nett anzusehen, aber die Frage ist: Verträgt sich das mit den sehr ernsten Themen, die dort zur Sprache kommen? Zum Beispiel in der hervorragenden Szene, in der Radenković, nunmehr die französische Humanität verkörpernd, verbal wie physisch Tritte einstecken muss. »Habt ihr es nie gewagt, eure Erzählung von der Grande Nation in Frage zu stellen? Habt die Aufklärung erfunden. Vielleicht solltet ihr sie mal auf euch selbst anwenden«, wird ihm von einem Banlieue-Jugendlichen entgegengeschrien - und nach jeder Anschuldigung folgt ein Tritt, vor dem sich Radenković mit einer Mischung aus Kissen und Boxsack schützt.

Die Perspektive des sozial getto-isierten Banlieue-Jugendlichen wird noch häufiger eingenommen. Am deutlichsten kommt sie in diesen Worten zum Ausdruck: »Ihr wollt mich nicht sehen, ihr denkt, ich werde mein Leben kauernd in einem Getto verbringen, eure Feindseligkeiten ertragend ohne dabei eure Shoppingtouren zum Schlussverkauf oder eure Partie Golf zu stören. Ich werde hereinbrechen in eure verfickte Realität, die ich hasse.«

Die Inszenierung zweifelt somit nicht nur Gewissheiten Frankreichs, sondern die des gesamten Westens an. Für welche Werte steht dieser? Was macht eine Nation aus, was Laizität? Wie reagiert man auf die Gefahr des islamistischen Terrors? Mit Kampf, mit Krieg? Aber nimmt der Westen, nimmt die französische Nation damit nicht die Gestalt ihrer fanatischen Gegner ein, denen man Rationalität abspricht?

Serres neues Stück legt genau das nahe, es sucht nach Gründen, warum Franzosen und die muslimische Welt (»Ihr habt uns jahrhundertelang ins Elend getrieben, damit ihr in Wohlstand leben könnt«) so einen Hass auf die westliche Gesellschaft entwickeln konnten. Er setzt sich damit dem Verdacht aus, Verständnis für die Gotteskrieger zu haben. Doch die Suche nach Gründen für Terroranschläge ist keine Rechtfertigung derselben.

Die nur 1,58 Meter kleine Marina Frenk spielt die besessene Jeanne großartig. In Frankreich sieht sich längst Marine Le Pen in der Tradition der Jeanne d’Arc. Videoprojektionen zeigen sie mit ihrem Vater vor einem Jeanne-Denkmal. Mit dem Erfolg bei den Regionalwahlen ist die Realität somit ein weiteres Mal über »Je suis Jeanne d’Arc« hereingebrochen. Serres Inszenierung endet damit, dass Jeanne den emanzipatorischen Kampf kurdischer Frauen in den selbstverwalteten Regionen lobt. Befreiung? Oder ist hier schon wieder nationalistisches Potenzial angelegt?

Nächste Termine: 27.12., 8. und 14.1.

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