Die Erschöpfung danach

»Alles Theater« - Margarita Broich fotografierte Schauspieler nach der Vorstellung

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Eben noch vom Beifall aufgeputscht, nun plötzlich allein mit dem Bild eines unendlich müden Menschen gegenüber im Garderobenspiegel – in solchen Momenten stand sie in der Tür: Margarita Broich mit ihrem Fotoapparat.

Wer die Wahrheit über einen Menschen wissen will, der muss ihm ins Gesicht schauen, wenn er nicht mehr kann. Wenn er so erschöpft ist, dass er vor Müdigkeit die Kontrolle über jenes Gesicht verliert, das er für andere parat hat. Es ist der Augenblick, da diejenigen, die eben noch so ekstatisch aus sich herausstürzten, nun langsam versuchen, wieder zurück zu sich zu finden.

Heimkehr des Helden! Zu Schminktopf und Kaffeetasse in der Garderobe, zwischen erkaltendem Schweiß und klebrigem Puder. Wie ausgespuckt vom Beifall eines Publikums, das bereits auf dem Weg nach Hause ist. War das eben auf der Bühne Wahrheit oder Lüge? Und jetzt? Einsichten, wie sie im stillen Rest der eigenen Kräfte erwachen, sind nicht für andere bestimmt.

In diesen Momenten, wenn die Schauspieler von der Bühne abgegangen sind, eben noch vom Beifall aufgeputscht, nun plötzlich allein mit dem Bild eines unendlich müden Menschen gegenüber im Garderobenspiegel, dann steht plötzlich sie in der Tür: Margarita Broich mit ihrem Fotoapparat. Rausschmeißen geht in der Regel nicht, sie ist immerhin eine alte Kollegin, die schon Heiner Müller für seine »Hamlet / Hamletmaschine«-Inszenierung im Sommer 1989 als Ophelia aus Westberlin ans Deutsche Theater holte - und wie Ophelias Schatten schwebt sie nun noch immer zum falschen, also richtigen Zeitpunkt durch die Garderoben verschiedenster Theater und macht traumhaft entrückte Bilder von Schauspielern nach der Arbeit.

Nach Feierabendstimmung jedoch sehen die Porträts nicht aus, eher wie nach der Schlacht aufgenommen. Margarita Broich fotografiert gleichsam die Rückseite der Auftrittsmenschen, in Momenten, wo sich die Lücke zwischen Maske und Gesicht zeigt, dann, wenn die Rolle abgespielt ist. »Jeder Schauspieler kennt diesen komischen Moment, wenn man allein vor dem Spiegel sitzt und sich selber in die Augen schaut«, schreibt Margarita Broich im Nachwort von »Alles Theater«, auch, dass jeder Schauspieler nach der Vorstellung schöner aussieht als davor: »Alles an ihm ist lebendig.«

Ein echtes Kleinod ist dieser Band in der Insel-Reihe, der viel mehr ist als der Kamerablick in die offenen Garderoben nach Vorstellungsende. Von Samuel Finzi und Wolfram Koch bereits auf dem Cover (im Rot des Zuschauerraums des Deutschen Theaters), über Nina Hoss, Alexander Scheer, Sophie Rois, Jürgen Holtz, Lars Eidinger, Stefan Kurt, Milan Peschel bis zu Jule Böwe, Lilith Stangenberg und Corinna Harfouch sind insgesamt zweiunddreißig Schauspielerporträts versammelt, zu denen Brigitte Landes die Selbstaussagen der Fotografierten protokolliert hat.

Auch die bereits verstorbenen Walter Schmidinger und Otto Sander sind darunter. Letzterer besaß einen schonungslosen Blick auf das eigene Gewerbe: »Kellner, Nutten, Taxifahrer und Schauspieler. Alles dasselbe. Dienstleistendes Gewerbe.« Das darf man dann wohl eine Zuspitzung mit zynischer Grundhaltung nennen. Gerichtet ist sie vermutlich gegen Kunsteinreden, die sich unangreifbar machen wollen für Nachfragen aller Art. Etwa wenn Susanne Wolff von den »Bausteinen des Künstlers« spricht, aber zuvor erst einmal postuliert: »Ich möchte nicht über meine Arbeit reden.« All das sind Masken, Versuche sich zu schützen, wenn man nicht mehr eine Rolle spielt, sondern selbst als Mensch gefragt ist.

Der weise alte Clown Jürgen Holtz spricht das Dilemma des Schauspielers aus: »Talente werden Stars, bevor sie Künstler werden. Natürlich lechzt man nach Ruhm, aber nützen tut er dem Geschäft, wenn überhaupt, und dann bleibt man hinter seinem Ruhm zurück und altert.« Auch die junge Lilith Stangenberg weiß bereits: »Man muss kämpfen, um kein Museum zu werden.« Sophie Rois sagt unverblümt: »Auf der Bühne bin ich erlöst vom Skript meines Lebens.« Das ist gut gesagt. Und sucht nicht jeder dieser Art Erlösung auf Probe, die da im zeitweisen Verlassen des eigenen Ich liegt, im Verwandlungsspiel zwischen Lust und Schmerz?

Man muss sie lieben, diese stellvertretend für uns fremde Leben wie Jacken anprobierenden Schauspieler. Man muss sie auch ein bisschen fürchten, denn sie haben uns anderen etwas voraus: Sie wissen, wie das ist, wenn man die fremde Jacke dann einfach ablegt, die eigene anzieht und nach Hause geht. Unheimlich ist das schon, aber auch unheimlich schön.

Manche der kurzen, aber in ihren poetischen Beiläufigkeit oft so eindringlichen Texte, die zu den Bildern gestellt sind, entstanden erst, als die Schauspieler die Fotos von sich in diesen Momenten des Danach betrachteten. Milan Peschel, noch in russischer Offiziersuniform, nach Frank Castorfs »Nach Moskau! Nach Moskau!« an der Volksbühne aufgenommen, den Kopf auf den Arm gestützt, mit einem Ausdruck des Schmerzes in den Augen, in denen der plötzliche Abschied von der eben noch so gegenwärtigen Geschichte leuchtet, sagt: »Ich mag diesen Zustand nach einer vierstündigen Aufführung. Da ist so eine Leere im positiven Sinn (...) Man ist für kurze Zeit frei von allen Masken. Deswegen muss es schnell gehen mit dem Fotografieren, bevor sich diese ganzen Masken wieder aufbauen.«

Und Alexander Scheer, dieser Extremist im Kriegsspiel gegen sich selbst, dem man ansieht, dass für ihn Wahrheit immer Passion im doppelten Wortsinne ist (Leidenschaft und Leid), nach Castorfs »Der Spieler« aufgenommen, weiß: »Du kannst dich nur reinschmeißen und um dein Leben schwimmen. Es ist wie Jazz. Was Castorf inszeniert, ist wie Musik. Es gibt allerdings nicht viele Bands, die das, was er komponiert, auch spielen können.«

Wie wahr und wie wahnsinnig das doch ist! - Aber vor allem, das zeigt dieser einmalige Band, ist es schön.

Alles Theater, Fotografien: Margarita Broich, Texte: Brigitte Landes, Insel-Bücherei, 78 S., geb., 18 €.

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