Vorurteile und Körperklänge

Kuratorin Anna Mülter über Schwerpunkte der diesjährigen Tanztage Berlin

  • Lesedauer: 4 Min.
In den Sophiensaelen beginnt das Jahr an diesem Donnerstag wie 
gewohnt mit den Tanztagen (bis 
17. Januar). Zum 25. Mal findet das Nachwuchsfestival bereits statt, 
zum zweiten Mal kuratiert von Anna Mülter. Im Interview mit Tom 
Mustroph stellt sie die thematische Schwerpunktsetzung Exotismus 
und postkolonialer Diskurs vor und gibt Ausblicke auf den Zustand 
der Berliner Tanzszene.

Anna Mülter, die Tanztage haben sich eine Menge vorgenommen. Exotismus und ethnische Stereotype sollen auseinandergenommen werden, das postkoloniale Erbe wird untersucht und dabei auch noch getanzt. Wie soll das Ganze gehen?

Wir haben einen Raum als Archiv angelegt, in dem in Kooperation mit dem Julius-Hans-Spiegel-Zentrum außereuropäische Einflüsse auf den zeitgenössischen Tanz untersucht werden. Das ist ein blinder Fleck. Bislang ging es meist nur um die westlichen Traditionen. Im Archiv entstehen drei Premieren. Hinzu kommen Produktionen im Hauptprogramm, die sich aus postkolonialistischer Perspektive der Aneignung von Kulturpraktiken aus anderen Kulturkreisen widmen. Der brasilianische Choreograf Rodrigo Garcia Alves etwa greift frühe ethnologische Beschreibungen von Kannibalismus auf und verknüpft das mit dem Anthropophagischen Manifest, das vorschlägt, die westlichen Einflüsse durch Auffressen zu neutralisieren.

Kann man solch eine Analyse überhaupt durchhalten, ohne selbst wieder in die Stereotypen zurückzufallen? Als geübte Derrida-Leser wissen wir ja, dass wir das, was wir bekämpfen, noch mindestens als Spur wieder antreffen werden. Wie gehen da die Künstler vor ?

Man kann dieser Gefahr grundsätzlich nicht entgehen. Das macht exemplarisch die Arbeit von Olivia Hyunsin Kim im Hauptprogramm klar. Sie verstärkt das Problem noch. Sie hat im Schauspiel angefangen und wurde dabei immer auf ihren ethnischen Hintergrund festgelegt. Auf den Tanz ausweichend, wurden ihr auch dort bestimmte Techniken zugeschrieben, die sie gar nicht beherrscht. Um dieser Schematisierung zu entgehen, hat sie nun einen eigenen Tanz kreiert. Der ist ein Fake, hat nichts oder nur wenig mit den koreanischen Tanztraditionen zu tun, entspricht aber dem, was wir Europäer uns landläufig darunter vorstellen.

Eine elegante Befreiungsvariante. Was geschieht im Rahmen der Arbeit des Julius-Hans-Spiegel-Zentrums? Der Namensgeber war ja eine faszinierende Gestalt, mit spektakulären Auftritten in den 20er Jahren mit Tänzen, die ihm angeblich von einem javanesischen Prinzen beigebracht wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Spiegel dann auf Capri als Tanzlehrer und Fotomodell. Was ist bei ihm historisch gesichert und was machen die heutigen Künstler, die unter diesem Dach forschen?

Bei der Recherche stößt man auf ein Geflecht von Fakten und Mythen, die die Tänzer damals zum Teil auch selbst in die Welt gesetzt haben. In den aktuellen Archivarbeiten entdeckte Dragana Bulut für sich serbische Volkstanztraditionen neu, die von Gruppen hier in Berlin auch praktiziert werden. Und Sara Mikolai ist in der indischen Tanzform Bharatanatyam ausgebildet und spielt mit unserem Wissen und Nichtwissen darüber.

Ein zweiter Schwerpunkt im Festival ist der Frage der Erzeugung von Klängen durch und mit dem bewegten menschlichen Körper gewidmet. Gab es weitere Themen, die sich bei der Recherche als wichtig für die aktuelle junge Choreografengeneration herauskristallisiert haben?

Eigentlich nicht, aber bei den 160 Einsendungen fällt auf, dass generell die Auseinandersetzung mit konkreten Themen zunimmt. Die Welle der Beschäftigung mit dem Material, mit Objekten im Tanz, ist hingegen wieder abgeebbt.

Welchen Einfluss hat das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz in Berlin auf die aktuellen Tanztage?

Gemessen an der Bedeutung für die Berliner Tanzszene einen gar nicht so großen, weil mir für das Festival ein breiter Überblick wichtig ist. Fürs nächste Jahr habe ich mir vorgenommen, mehr Augenmerk darauf zu legen. Für die Künstler, die dort ihren Abschluss gemacht haben, ist es extrem schwer, danach weiter in der Stadt zu arbeiten. Sie können das oft nur in ganz kleinem Rahmen tun, und die Tanztage könnten eine gute Plattform sein. Die letzten Absolventenjahrgänge waren sehr interessant.

Das heißt, es gäbe genug aufstrebende Berliner Choreografen, um die Tanztage zweimal jährlich zu veranstalten, wie es früher der Fall war?

Wir würden das gern machen, das Potenzial ist in Berlin im Moment so stark wie nie. Aber es fehlt an Geld. Wir haben für das Festival 63 000 Euro zur Verfügung und produzieren damit neun Premieren und drei Wiederaufnahmen. Da reden wir schon gar nicht mehr von Honoraruntergrenzen für die Künstler. Die Priorität ist für mich erst mal, die Bedingungen für diese Produktionen zu verbessern.

www.sophiensaele.com

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