Am Anfang war das gelehrte Kaffeehaus

Die Gründung von Vereinen hat in Berlin eine lange Tradition

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 4 Min.

Kurt Tucholsky verspottete die Vereine: Bürgerpfuhls jedweder Konformität. »Draußen bin ich nur ein armes Luder, hier bin ich Mann und Bundesbruder«, geißelte er deren Selbstbezogenheit. Indes ist die Neigung, sich nach Maßgabe besonderer Interessen zu organisieren, allein damit nicht erklärt. Derzeit gibt es in Berlin etwa 24 000 Vereine.

Eine Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist den Ursprüngen der Vereinsgründung nachgegangen und hat nun ein Handbuch vorgelegt. Die zeitliche Eingrenzung 1786 bis 1815 ergibt sich aus dem Forschungsrahmen des Projekts »Berliner Klassik«. In dieser Periode sind Vereinsgründungen dezidiert bürgerlich, mitunter sogar vom Königshaus angeregt oder gefördert. Das Proletariat im klassischen Sinn bildete sich erst nach und nach heraus. Dennoch war das Bedürfnis, feudale Konventionen aufzubrechen durch neue Formen der Geselligkeit, Ausdruck eines bisher völlig unbekannten Emanzipationsbestrebens. Die neuen Vereine verschrieben sich mehr oder weniger selbstbestimmt freidenkerischen oder beruflichen, also auch sozialen Zielen.

Die ersten Vereine in Berlin wurden von Hugenotten gegründet. Der französische Einfluss regte den freien Gedankenaustausch an, so dass sich bereits vor dem in den Titel gesetzten Tod Friedrichs II. etliche wissenschaftliche, philosophische und literarische Gesellschaften gründeten. Seit 1755 traf sich das »Gelehrte Kaffeehaus«, ein Vereinstyp, der sehr beliebt war. Die Mitglieder versammelten sich im »Englischen Haus« in der Mohrenstraße, um Zeitungen und Journale zu lesen, preisgünstig Kaffee zu trinken, miteinander zu plaudern. Sie hielten und diskutierten Vorträge, die nicht selten publiziert wurden. Zu diesem Zirkel gehörten vor allem Naturwissenschaftler, aber auch der bedeutende Philosoph und Schriftsteller Moses Mendelssohn.

Etwa zur gleichen Zeit machen Hammer und Winkelmaß Furore. Friedrichs II. Neigung zur Freimaurerei ist bekannt. Aber wissen wir Genaueres? Wie es dazu kam, dass der Kronprinz 1739 auf Schloss Rheinsberg die erste Freimaurerloge in Brandenburg gründete und ein Jahr später auf dessen Geheiß die erste Loge in Berlin entstand - diese aus politischem Kalkül geförderte Geheimbündelei wird präzise dargestellt. Die Berliner Loge »Zu den drei Weltkugeln« war für »nicht hoffähige Männer« offen. Freundschaft und Bruderliebe sollten Standesgrenzen überwinden. Mit den Jahren aber versank die Freimaurerei in Aberglauben und Streit zwischen den Logen, schließlich (s. Templer) in Gehorsam und Intoleranz. Die »Drei Weltkugeln« avancierten zur National-Mutterloge; es gibt sie noch heute, mit Sitz in der Heerstraße.

Unter den ambitionierten Freundeskreisen sticht neben dem Tugendbund um Henriette Herz der Polarsternbund hervor, den Karl August Varnhagen und Adalbert von Chamisso 1804 aus der Taufe hoben. Der literarisch hochgebildete Kriminalrat Julius Eduard Hitzig und andere kamen hinzu, E.T.A. Hoffmann und Friedrich de la Motte Fouqué hielten engen Kontakt. Das sind Namen, die bei den Serapionsbrüdern wieder auftauchen, in jener geistreichen, heiteren, mitunter weinseligen Literatenrunde, die durch Hoffmanns gleichnamige Prosasammlung weltberühmt wurde. Es waren fast alles junge Leute, die ihrem Esprit Zunder gaben, sich ihre Texte vorlasen, »der chaotischen Zerstreuung« der Massen entgegen wirken wollten und einem fast religiösen romantischem Pathos frönten.

Das war bei den Berufsverbänden anders. Sie hatten Statuten, gewählte Vorstände, feste Termine; es wurden Mitgliedsbeiträge verlangt. Den Anfang machten die Apotheker. Der Apothekerverband existiert noch heute. Ärztevereine gab es im Untersuchungszeitraum vier, als wichtigste die Hufelandische Gesellschaft und die vom Apotheker Klaproth geleitete Gesellschaft für Natur- und Heilkunde. Die Versammlungen fanden alle 14 Tage statt. In Lesezirkeln und Fortbildungsveranstaltungen erweiterten die Mitglieder ihr Wissen.

Selbstverständlich sind alle Studentenverbindungen aufgenommen. Auch die christlichen Vereine von der frühen Bibelgesellschaft bis zur »Gesellschaft zur Beförderung der Evangelischen Mission unter den Heiden«, Musik- und Gesangsvereine, pädagogische Verbände und allerlei skurrile Tischgesellschaften. Einen heutzutage völlig verblassten Ursprung haben die Frauenvereine. Sie entstanden als patriotische Unterstützungsverbände während der antinapoleonischen Kriege. Auch sie gingen von einer königlichen Initiative aus. Ein »Aufruf der Prinzessinnen an die Frauen im Preußischen Staat« war das Signal zu ihrer Bildung 1813 bis 1815. Frauen und Mädchen halfen in Lazaretten, betreuten Invaliden, kochten, nähten, sammelten Kleidung für die Landwehrsoldaten, Gelder für Witwen und Waisen. Die Engagiertesten unter ihnen verstanden es, die den Frauen verschlossenen vaterländischen Verbände für ihre Anliegen zu öffnen und soziale Probleme durch Nächstenhilfe zu lindern. Die frühen Frauenvereine markieren die Anfänge der bürgerlichen Frauenbewegung. - Arbeitervereine zur Artikulation von Arbeiterinteressen entstanden erst in den 1830er Jahren. Deren lückenlose Dokumentation steht noch aus.

Uta Motschmann (Hrg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786 - 1815. Verlag De Gruyter, Berlin. 1035 S., geb. 199,95 €.

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