Der Tod eines italienischen Kommunisten

Schweigen hier, antisozialistische Kampagne dort: der Fall Benito Corghi. Teil VIII der Serie über die DDR 1976

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 8 Min.
Benito Corghi war Kommunist und Lkw-Fahrer. 1976 starb er durch Schüsse an der DDR-Grenze. Nicht nur die Kommunistische Partei Italiens (KPI) schwieg.

Grenzübergangsstelle Hirschberg. Wie in jeder Nacht ist die Autobahn-Transitstrecke gut ausgeleuchtet, im Abstand von zwanzig Metern mit »Peitschenlampen«. Nach und nach beginnt der Tag zu dämmern, es ist der 5. August 1976.

Obwohl es dem Postenführer Uwe Gotthard S. verboten ist, seine Stellung zu verlassen, wird er die rund 80 Meter zum Gestürzten hinlaufen, gleich nach den Schüssen. Und da er am Rücken keine Wunde entdecken kann, dreht er den Bewusstlosen um. S., so wird es 1994 in der Urteilsbegründung vor dem Landgericht Gera heißen, habe nun eine stark blutende Platzwunde an der Stirn bemerkt und zunächst gedacht, er habe den Mann am Kopf getroffen. Er fühlte den Kopf des Schwerverletzten ab, fand aber keinen Einschuss. Daraufhin versorgte er die Kopfverletzung mit dem Verbandsmaterial, das Teil seiner Ausrüstung war, und lief dann aufgeregt zurück zu seinem Posten, rief seinem Kameraden zu, er solle Hilfe rufen, medizinische Hilfe - was auch geschah.

Ob nun der Angeklagte nochmals zurücklief und sich um den Mann kümmerte, konnte später nicht mehr mit Sicherheit in Erfahrung gebracht werden. Fest steht: Kurze Zeit später erschien die »Alarmgruppe«, bestehend aus dem »Alarmgruppenführer« Sch., einem Fahrer und zwei bis vier weiteren Soldaten. Und obwohl der Gefreite S. den Alarmgruppenführer anschrie, er solle sich um den Verletzten kümmern, zogen die hinzu geeilten Soldaten den blutenden Körper erst einmal von der Straße weg auf ein etwas höher gelegenes Gelände neben der Autobahn. Dabei fügten sie dem Mann zusätzlich Schürfwunden an den Händen zu. Erst jetzt wurde vom Lastkraftwagen eine Bahre geholt, der Körper draufgelegt, in den Lkw gebracht und zur Kaserne gefahren.

Eine Meldung in »L’Unita«

Am Abend desselben Tages brachte »L’Unita«, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Italiens, folgende Meldung in Umlauf:

»Ein italienischer LKW-Fahrer wurde heute morgen von den Grenzsoldaten der Deutschen Demokratischen Republik erschossen, die an einem Grenzkontrollpunkt zwischen den beiden Deutschlands das Feuer auf ihn richteten. Es handelt sich um Benito Corghi, 38 Jahre alt, aus Rubiera (Reggio Emilia), bei einer Firma beschäftigt, die auf den Fleischtransport zwischen den sozialistischen Ländern und Italien spezialisiert ist.«

Der italienische Geschäftsträger in Ost-Berlin, so erfuhr man weiter, habe die Nachricht von dem Zwischenfall um 18 Uhr erhalten und »den energischen Protest der italienischen Regierung zum Ausdruck« gebracht. »Benito Corghi, der Mitglied der Italienischen Kommunistischen Partei war und einer Familie von Kommunisten und Antifaschisten angehörte, hinterlässt seine Ehefrau Silvana Bartarelli und zwei Kinder: Loretta 18 Jahre alt, und Alessandro, 15. Der so hart betroffenen Familie Corghi sprechen die Kommunisten der Region ihr brüderliches und tief empfundenes Beileid aus, dem sich die Redaktion anschließt.«

Benito Corghi hatte mit seinem Kühllastzug die Grenze in Richtung Bundesrepublik längst passiert, bemerkte dann aber beim Vorzeigen der Papiere an der westdeutschen Kontrollstelle Rudolphstein, dass er die Transportpapiere für das Fleisch in seinem Lastkraftwagen liegen gelassen hatte - bei der Kontrolle auf der DDR-Seite. Und weil ihm die Kehrtwendung des Lkw zu aufwendig schien, war er gegen 3.40 Uhr am Straßenrand zu Fuß zurückgegangen.

Der Gefreite S., der dem zweiten Posten befohlen hatte, in der Nähe Stellung zu beziehen und ihm Deckung zu geben, ließ den vermeintlichen Grenzverletzer, wie es der Befehl vorsah, bis auf eine Handgranatenwurfweite von 10 bis 15 Metern herankommen, trat dann hervor mit dem Anruf: »Halt, stehen bleiben! Grenzposten Händehoch!«

Daraufhin habe der Mann seine Zigarette weggeworfen, so wird es der Gefreite Uwe Gotthard S. später an diesem Tag laut Protokoll schildern, zudem habe Corghi versucht, ihm »etwas klarzumachen«. Aber S. verstand nicht, was der Mann von ihm wollte. Daraufhin habe er versucht, ihm durch eine Geste - »ich hob selbst meine linke Hand« - klarzumachen, dass er die Hände heben solle. »Dieser Aufforderung kam die männliche Person nicht nach und sie drehte sich sofort um und begann, in Richtung Staatsgrenze zu laufen. Nach dieser Reaktion schrie ich nochmals, dass sie stehen bleiben soll. Ich konnte deutlich erkennen, dass sie jetzt noch schneller rannte. Befehlsgemäß gab ich zwei Warnschüsse ab. Zu diesem Zeitpunkt war meine Waffe noch auf Dauerfeuer eingestellt. Ich merkte aber, da ich im Stehen schoss, dass es die Waffe nach rechts oben wegzog. Deshalb stellte ich jetzt auf Einzelfeuer.«

Die später von den Ärzten in Erfahrung gebrachte Todesursache lautete: Rückenmarkverletzung infolge eines Brustkorbdurchschusses mit Verletzung der unteren Hals- und Brustwirbelsäule. Es handelte sich eindeutig um einen Fernschuss.

Das Medienecho

Das Hamburger Wochenblatt »Zeit« schrieb in der Woche darauf, mit Corghi sei zum ersten Mal ein Mensch, der den Schüssen der DDR-Grenzwächter zum Opfer gefallen ist, »unter dem Zeichen von Hammer und Sichel und unter den Klängen der Internationale zu Grabe getragen worden«. (Was nicht ganz der Wahrheit entsprach: Im Oktober 1964 war der Grenzsoldat Egon Schultz bei einem von so genannten Fluchthelfern begonnenen Schusswechsel versehentlich von den eigenen Leuten getötet worden.) Das Unbegreifliche, gerade aus italienischer Sicht sei gewesen, »dass da an einer Grenze, noch dazu an einem offiziellen Grenzübergang, gleich tödliche Kugeln fliegen, wenn sich ein Mensch nicht ordnungsgemäß zu bewegen scheint«. Der »Tagesspiegel« urteilte: »Die Grenzwächter der DDR haben längst die Fähigkeit verloren, auf ungewöhnliche Vorkommnisse - selbst auf diejenigen, die sie selbst durch ihre Anordnungen herbeiführen - angemessen zu reagieren.«

Das Berliner Springer-Blatt »B.Z.« brachte als Aufmacher: »Die Witwe und ihre beiden Kinder. Tränen am Sarg von Benito Corghi.« In Rubiera seien am Tag der Beerdigung alle Geschäfte zum Zeichen der Trauer geschlossen gewesen; die Ortschaft habe wie ausgestorben gewirkt, als sich gegen 18 Uhr die etwa 2500 Trauergäste vor der Wohnung des erschossenen Lkw-Fahrers in Bewegung setzten. Das ganze Dorf habe den Sarg zu seiner letzten Ruhestätte begleitet. Unter dem Artikel erfuhr man noch: »Erst jetzt wird bekannt: Das ZDF-Fernsehteam der Quizsendung ›Dalli-Dalli‹ hat am Wochenende 12 000 Mark für die Witwe des Erschossenen gesammelt. Spielleiter Hans Rosenthal: ›Eine gute Sache‹.«

Der Kabarettist und Autor Martin Buchholz, damals noch als Journalist tätig, schrieb im »Berliner-Extra-Dienst«, einer linkssozialistischen Wochenzeitung: »Perverser kann die Situation ja auch kaum sein. Die Erschießung wird zum Höhepunkt einer antikommunistischen Kampagne. Die DDR-Grenzer lieferten den ›Freiheit-statt-Sozialismus‹-Demagogen die passende Leiche frei Haus. Die hiesigen Kommunisten schweigen beklommen und sorgen noch für makabre Pointen - so der SEW-Parteivorstand, der am Freitag seine ›Wahrheit‹ mit der Titelzeile erscheinen ließ: ›SEW: Todesschuss verfassungswidrig‹. Gemeint war hier die Neubauerische ›Todesschuss‹-Verordnung, die Polizisten zu Ad-hoc-Henkern beruft.«

Auch »Neues Deutschland« berichtete über den »Zwischenfall an der Staatsgrenze« - mit einer knappen ADN-Meldung: »Am 5. August 1976 gegen 3.45 Uhr näherte sich eine männliche Person, von der BRD kommend, den Grenzsicherungsanlagen in der Nähe der DDR-Grenzübergangsstelle Hirschberg. Trotz mehrmaliger Aufforderungen versuchte der Mann, sich der Kontrolle zu entziehen. Dabei wurde er durch einen Schuss verletzt. Trotz sofortiger ärztlicher Hilfe verstarb er. Es handelt sich um den italienischen Bürger Benito Corghi.«

KPI-Chef Berlinguer schweigt

Zumindest in Italien erwartete die Öffentlichkeit auf mehr, wenigstens auf eine Stellungnahme der italienischen KP-Führung, auf ein Wort Enrico Berlinguers, der doch fünf Wochen zuvor auf der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien in Ostberlin dem sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew die kritiklose Gefolgschaft verweigert und für einen demokratischen Weg zum Sozialismus geworben hatte. Doch die Parteiführung in Rom hüllte sich in Schweigen.

Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« kam damals in einem Kommentar zum Tod Corghis auf die Rolle der KPI zu sprechen: »Der Italiener war altgedienter Kommunist. Das zwingt die Kommunistische Partei Italiens aus der Gleichgültigkeit heraus, mit der sie bisher über die Realitäten an der Zonengrenze hinwegzuschauen schien. Ihr Verhältnis zur ostdeutschen Bruderpartei (deren Funktionäre sie so manches Mal auf kommunistischen Partei-Festen dem Volk als Bruder vorgezeigt) ist betroffen. Wie es sich nach dem Tod von Benito Corghi entwickelt, das wird Hinweise darauf geben, wie es mit der von ihr behaupteten Unabhängigkeit vom Ostblock steht.«

Enrico Berlinguer, der große Mann der Kommunistischen Partei Italiens, die historische Lichtgestalt der europäischen Linken, sollte die Tötung Corghis jedoch mit keiner Silbe verurteilen. Hätte für Berlinguer, der bekannt dafür war, jeden Sonntag seine Frau zur Kirche zu begleiten und an der Schwelle kehrtzumachen, dessen Partei auch von Hunderttausenden Katholiken gewählt worden war, hätte für ihn nicht auch gelten müssen: »Was du dem geringsten meiner Genossen antust, das tust du auch mir an«?

Benito Corghi war kein imperialistischer Agent. Anders als Michael Gartenschläger hatte er an der Grenze auch keine gegen die DDR gerichteten Provokationen unternommen. Der Familienvater war einfach nur seiner Arbeit nachgegangen.

Nicht schweigen wollte deshab die Witwe. Silvana Corghi, wie ihr Mann Mitglied der kommunistischen Partei, wandte sich an die SED: »Hoffen wir, dass der Tod Benitos Euch hilft, einzusehen, dass man den Sozialismus nicht mit Morden verteidigt.«

Der ehemalige Grenzsoldat Uwe Gotthard S. wie auch seine Vorgesetzten wurden 1994 vom Landgericht Gera vom Vorwurf der vorsätzlicher Tötung freigesprochen.

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