nd-aktuell.de / 19.01.2016 / Kultur / Seite 16

Schlüter, Sprache und Schmieröl

Der Schauspieler Otto Mellies wird heute 85 Jahre alt

Hans-Dieter Schütt

Nichts ist wichtig genug, als dass nicht wichtig wäre, wie es gesprochen wird. Und wenn von irgend wem lauthals verkündet wird, eine Sprache verjünge sich, so wird da meistens nur übertüncht, dass sie zerfällt. Die Kunst des Schauspielers Otto Mellies aber ist immer auch eine Kunst der Wortpflege, der Silbenweihe, der Versverteidigung gewesen. Wenn er auftrat, schuf er sofort Platz für die Sprache. Sie bekam von ihm Körper, Gestalt, Wucht, Melodie, Tragik, Sehnsucht, Hochmögenheit, Sturmgebraus und Dunkelruhe. Ein Sprechgestenspieler.

Längst ist er einer derjenigen, die spät im Leben in seltsamer Pflicht stehen: Sie tragen - mit sich, in sich - eine andere Zeit (gar Ära?). In dieser Rolle sind Künstler wie er von gewisser Einsamkeit umflort, sie sehen sich um und erblicken nur noch Wenige, sehen also nur noch wenig von dem, womit auch ihr Name verbunden ist. Otto Mellies, 1931 in Stolp, dem heutigen polnischen Slupsk geboren, kam nach diverser ostdeutscher Provinz 1956 ans Deutsche Theater Berlin. Prägte und präsentierte dort viele Jahrzehnte. Wolfgang Langhoff, dessen achtungsvolle, verstandesklare, unbestechliche Arbeit mit klassischen und zeitgenössischen Dramatikern, wurde des Schauspielers erste wichtigste Lehrmeisterschaft.

Von Hacks und Goethe bis Schiller und Dürrenmatt - Mellies’ lebenslang lebendiges Credo: in unsterbliche Texte sich staunend hineinbegeben; Stücke als Herausforderung, nicht als Punchingbälle nehmen; Gestalten nicht kleinholzen, sondern sich zu Giganten der Weltdramatik liebend erregt bekennen und also gegen den Banalitäts- und Alltagston anspielen.

Es gibt aber treffliche Beispiele, etwa aus der Reihe »Polizeiruf 110« oder, soeben erst, im Dieter-Hallervorden-Film »Sein letztes Rennen«, da stieg Mellies aus Höhen der gebieterischen Moralkraft, aus Gefilden des sonoren Edelmuts herab in die Schlammigkeit des Biedersinns, ins Schmiergebiet der Intrige. Ja, er konnte (auch auf der Bühne) auf gnadenlos komische wie krud-verbissene Weise feist, intrigant, ölig sein. Schuf Charaktere, denen einzig die Niedertracht ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte.

Im Herbst 1987 hatte im DT »Nathan der Weise« in der Regie von Friedo Solter Premiere. Die Titelrolle spielte Mellies, in der Nachfolge von Paul Wegener, Eduard von Winterstein und Wolfgang Heinz - dreihundertfünfundzwanzig Mal verkörperte er den weisen Juden. Weise? Ja, aber auch ein anderes Wort für: gewieft. Er zeigte Nathan als Verletzlichen, und er offenbarte die Mühe, die es den reichen Kaufmann kostet, sich Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, Angst vor Gewalt zu überwinden. In Solters Inszenierung blieb Nathan in der Euphorie der Umarmungen plötzlich auch sehr allein, stand am Rande der Bühne, keiner brauchte ihn mehr: Des Juden stille Resignation, seine pochende und peitschende Verzweiflung über menschliches Versagen prägten sich dank dieses Schauspielers tief ein.

Für einen über Achtzigjährigen mag es nicht ungewöhnlich sein, Ruhe und Verlässlichkeit auszustrahlen. Mellies aber hat dieses Bedachtsame, Zurückhaltende schon in jungen Jahren gehabt. Die besagte tiefe, einschmeichelnde Stimme kam ihm dabei zugute, aber auch die Scheu vor Äußerlichkeiten. Oft bot er spielerisch Menschen an, vor allem im Fernsehen (»Dr. Schlüter«, die Erfolgsserie), mit denen man gern in Kontakt kommen wollte, Mannsbilder, die Kraft haben und Forderungen ans Leben stellen. Durch die Verkörperung widersprüchlicher Charaktere auch in anderen weit ausgreifenden, mehrteiligen Fernsehproduktionen wie »Ich - Axel Cäsar Springer«, »Hannes Trostberg« und »Salut Germain« erwarb er sich einzigartige Popularität. Nicht selten verschmolz für die Zuschauer der Schauspieler mit seiner Rolle, und es war für ihn mitunter nicht einfach, sich dieser Gleichsetzung von Person und fiktiver Figur dann auch wieder zu entziehen.

Otto Mellies wirkte auf der Bühne des Deutschen Theaters nie, als habe sein Spiel einen Kontrakt mit dem Augenblick. Er wirkte eher, als trage er würdevoll schwer, aber doch mit einer unvergleichlichen Erhabenheitsgrandezza mit an der Geschichtlichkeit des Ortes - der Klänge und Spuren des Hauses. Ohne dass er auch nur irgendein Fitzelchen davon imitierte. So formte seine spezielle Gabe aus uralten Staubkörnern eigene Goldkörner, funkelnde Glanzpunkte, in deren Widerschein er sein ganz Eigenes gespiegelt fand. Und wir ihn als groß feiern konnten. Heute wird Otto Mellies 85 Jahre alt.