Liebe in Zeiten der 3D-Drucker

Im Kino: »Anomalisa« von Charlie Kaufman und Duke Johnson

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 4 Min.

Sex mit Puppen - das klingt nach aufblasbaren PVC-Monstern, nach einsamer Triebabfuhr, nach quietschendem Gummi, nach grandiosem Fehlkauf im »Erotik«-Basar. Hat man aber Charlie Kaufmans neuen Geniestreich »Anomalisa« gesehen, werden die Assoziationen ganz andere sein. Obwohl: Das Element der Einsamkeit ist auch aus Kaufmans rätselhaften Kleinoden von Filmen nicht wegzudenken. Und das Dasein des modernen Individuums erscheint unter seiner empathischen und doch gnadenlosen Betrachtung oft auch ziemlich erbärmlich - ob die Charaktere nun in einer »funktionierenden« Beziehung leben, oder eben auf Alternativen aus dem Pornoshop angewiesen sind.

Was aber, wenn die moderne Versessenheit auf die Eigenständigkeit des Individuums sowieso ein riesiger Irrtum ist? Genau das legen der Autor/Regisseur Kaufman und sein Co-Regisseur Duke Johnson in ihrem Film nahe. Und sie unterstreichen es mit einer faszinierenden, in ihrer verblüffenden Wirkung zauberhaft zu nennenden formalen Entscheidung: Alle Charaktere in »Anomalisa« werden von Puppen dargestellt.

Das »Fregoli-Syndrom« beschreibt eine Persönlichkeitsstörung. Die Betroffenen nehmen die verschiedenen Menschen in ihrem Alltag als immer dieselbe Person wahr, die sich nur mit unterschiedlichen Verkleidungen tarnt. Im Hotel »Fregoli« steigt der Protagonist aus »Anomalisa« ab - der gefeierte Motivationstrainer Michael Stone ist während seiner einsamen Promotiontour nicht nur völlig unmotiviert und ausgebrannt, er leidet offensichtlich auch an jenem Syndrom. Ob im Flugzeug, in der Hotellobby oder auf der Straße haben alle Menschen, denen er begegnet, das gleiche, austauschbare Gesicht. Und nicht nur das: Ob jung, ob alt, ob Frau, ob Mann - sie sprechen alle mit der selben Stimme (im Original: Tom Noonan), während bis dahin einzig Stone ein individuelles Timbre sein Eigen nennt (Stimme im Original: David Thewlis).

Michael Stones Reise im Flugzeug, eine Taxifahrt, das Einchecken im Hotel - der Anfang ist eine in ihrer Nichtigkeit quälende Aneinanderreihung menschlicher Banalitäten. Die Dialoge erscheinen leer und stets unnötig in die Länge gezogen, Wortlosigkeit muss um den Preis der totalen Belanglosigkeit vermieden werden. Doch ob es an der befremdlichen und betont »normalen« Puppenästhetik liegt oder an der immer gleichen Stimme der unterschiedlichen Gesprächspartner - oder ob man es bei Kaufman inzwischen gar nicht mehr anders erwartet: Permanent lauert man auf eine schockierende oder doch mindestens groteske Auflösung dieser höchst angespannten Situation.

Man begleitet den moralischen Zusammenbruch eines Mannes, der immer perfekt funktioniert hat, privat wie beruflich. Das Telefongespräch mit Frau und Kind (ebenfalls mit Tom Noonans Einheitsstimme) erscheint Stone so gruselig routiniert, wie ihm seine eigenen Vortragsfloskeln leer erscheinen. Das Treffen mit einer alten Flamme gerät zum Desaster. Er flüchtet sich in die kleinen Dinge: Drinks, der Ärger über die Duschtemperatur, TV.

Doch dann erscheint ihm Lisa - zunächst nicht visuell, sondern akustisch: Sie ist außer Stone der einzige Charakter mit eigener Stimmlage (im Original: Jennifer Jason Leigh). Und diese Stimme dringt durch die Hotelwände an Stones Ohr und verzückt ihn wie göttliche Schalmeien. Dass Lisa ganz und gar kein himmlisches Geschöpf, sondern eine pummelige Provinzgöre ist, stört den verzauberten Stone (ergraut und übergewichtig) nicht weiter. Auch Lisas Narbe im Gesicht schreckt ihn nicht, ist sie doch das einzige persönliche Merkmal weit und breit. Doch Lisa ist nicht nur nicht schön. Sie hat auch keinen Esprit, ist nicht besonders witzig oder klug oder sonst irgendetwas. Aber sie hat eine entwaffnende Naivität - und natürlich diese Stimme, mit der sie sogar leidlich einen banalen Popsong singen kann.

Wenn die beiden schließlich im Bett landen und den eingangs beschriebenen Puppensex haben, passiert etwas Außergewöhnliches: Die Szene hat nichts Absurdes, sondern berührt durch Wärme, durch die Unbeholfenheit der Charaktere und durch eine völlig unerwartete, explizite Erotik. Wenn es Gerechtigkeit gibt, muss also der nominierte »Anomalisa« der erste nicht jugendfreie Animationsfilm mit Oscar-Weihen werden.

Kaufman erzählt eine für seine Verhältnisse »normale« Geschichte, kombiniert mit einer beeindruckenden formalen Konsequenz und abgerundet durch ein bemerkenswertes Tondesign. Wer sein Debüt als Drehbuchautor (»Being John Malkovich« von 1999) oder seinen letzten Streich als Regisseur (»Synecdoche, New York« von 2008) kennt, wird vielleicht noch mehr Verrücktheit und noch absurdere Wendungen erwarten. Doch zum einen hat der Zuschauer schon mit der Ausgangssituation von »Anomalisa« genug zu verarbeiten, zum anderen gibt es sie durchaus, die durchgeknallten Kaufman-Momente - etwa eine Traumsequenz, in der Stone in rätselhafte und beunruhigende Vorgänge im Keller seines Hotels verwickelt wird.

Das Motiv des Puppenspielers nutzte Kaufman bereits in »Being John Malkovich« - hier waren jedoch sowohl der Strippenzieher als auch die Puppe menschlich. Die im 3D-Drucker entstandenen Puppen in »Anomalisa« sehen dagegen aus, als hätten sie uniforme Masken auf, jedes Gesicht ist durch die gleiche Furche in zwei Elemente geteilt. Sie erscheinen unfertig, die Mechanik ist in keinster Weise kaschiert. Ob das am Budget lag oder absichtsvoll belassen wurde, ist gleichgültig. Die Faszination des Zuschauers für die Puppen, aber auch die Verwunderung über diese eigene Faszination für jene »toten« und zerbrechlichen Objekte, hält den ganzen Film über an.

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