Wider den 
#Geschlechterkampf

Zur Debatte nach den Übergriffen auf Frauen in Köln

  • Sarah Liebigt
  • Lesedauer: 4 Min.
Menschen, die »sexuelle Belästigung« für ein lustiges Trinkspiel am Stammtisch hielten, plustern sich »wegen Köln« zu Frauenrechtlern auf. Ihnen gilt der Hinweis auf die zahllosen Beispiele alltäglicher sexueller Gewalt.

Es ist immer einfach, zur Bestätigung der eigenen Meinung Gegenargumente auszublenden oder ihnen schlichtweg die Existenz abzusprechen. Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen: In der seinerzeit von Rainer Brüderles sexistischem Verhalten ausgelösten Aufschrei-Debatte wurde nicht ein einzelnes Ereignis aufgeblasen. Dem einen Beispiel folgten zahllose weitere. Natürlich war das eine Kampagne. Sie richtete sich gegen die Weltanschauung und das Menschenbild jener, die sich heute als neue Frauenrechtler gerieren. Nichts anderes sind nun, in der monströs groß gewordenen Debatte um Köln, die wiederholt angebrachten Hinweise auf Oktoberfest, Karneval, »Sexismus ist Alltag« und »sexuelle Gewalt gab’s schon vorher«. Hinweise also auf eine bereits existierende sexuelle Gewalt, die - wirklich und wahrhaftig - unabhängig vom Pass existiert.

Menschen, die »sexuelle Belästigung« für ein lustiges Trinkspiel am Stammtisch hielten, plustern sich »wegen Köln« zu Frauenrechtlern auf. Menschen, die fünf mal fünf Meter groß gezeigte weibliche Hinterteile in Unterwäsche als Untermalung für Wahlkampfslogans wie »SchwarzeSpitze« oder Werbekampagnen für »Pralle Angebote« für völlig okay halten. Menschen, die (alltäglichen) Ärger über Ungleichbehandlung, Missachtung und Herabsetzung von Frauen als Genderquatsch bezeichnen. Menschen, die Berichte über sexuelle Gewalt mit (»ästhetisch wertvollen«) Bildern nackter Frauen illustrieren. Menschen, die bemängeln, dass es nicht bereits am 3. Januar eine Aufschreiwelle gab. All jenen gilt der Hinweis auf die zahllosen Beispiele sexueller Gewalt, verbal oder handgreiflich, gegen Frauen, in Deutschland, alltäglich. Deswegen muss das Oktoberfest als Beispiel für eine alltägliche, weil gesellschaftsimmanente, männliche Grapschlust herhalten.

Wer in dieser Debatte wie mein Kollege Ingolf Bossenz (»nd« vom 20. Januar) Worte benutzt wie okkupiert, Propaganda, »feministische Hashtag-Industrie«, Projektionsflächenbombardement und »Sturm gegen«, der führt keine Rede für eine angemessene Bewertung der Kölner »Schreckensnacht«. Der führt einen Geschlechterkampf. Einen, der älter ist als die Gesetzesänderung, die eine strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigung in der Ehe erlaubt: Das wurde 1997 »korrigiert«. Älter als die Frauenkonvention. Das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau trat 1981 in Kraft. Und älter als die finanzielle Selbstständigkeit der Frau in Deutschland. Seit 1957 dürfen Frauen in der BRD ein Konto eröffnen, ohne dass ihr Angetrauter zustimmen muss. Es ist heute leicht zu vergessen, wie jung diese Errungenschaften sind. Deutschland ist eben immer noch kein gleichberechtigtes Schlaraffenland, in dem sich alle lieb haben und Gewalt gegen/Diskriminierung von Frauen nur eine Randerscheinung ist. Darum sollte sich jeder und jede angesprochen fühlen vom empörten Aufschrei und der Weigerung, die Kölner Nacht als ein ausschließlich von außen herein getragenes Phänomen zu betrachten.

Funfacts: Jede zweite Frau erlebt sexuelle Belästigung. Jährlich werden etwa 8000 Vergewaltigungen in Deutschland angezeigt. Die Verurteilungsquote liegt bei 13 Prozent. Eine von sieben Frauen in Deutschland erlebt sexuelle Gewalt seit dem 16. Lebensjahr. Etwa die Hälfte dieser Frauen hat Gewalt durch (Ex-)Partner erlebt. Unbekannte und flüchtig bekannte Personen wurden hingegen mit Anteilen zwischen 11 bzw. 22 Prozent benannt. 69 Prozent der Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen waren, nennen als Tatort die eigene Wohnung. Demgegenüber wurden öffentliche Orte mit 20 Prozent deutlich seltener als Tatorte angegeben.

Die letztgenannte Prozentzahl aus Studien und Kriminalitätsstatistiken belegt, dass die Überfälle in Köln eine »neue Qualität« von Gewalt gegen Frauen darstellen. Oder eine andere, schauerliche Facette. Das ist aber auch der einzige gemeinsame Nenner vieler der in den letzten Wochen publizierten Beiträge.

Dieser gemeinsame Nenner darf allerdings nicht automatisch - und vor allem: ausschließlich - zu Forderungen nach Obergrenzen für Flüchtlinge führen. Oder zu der nach einer Residenzpflicht für Geflüchtete. Und doch: Wer zögerte, schon Anfang Januar eine schärfere Asylpolitik zu fordern, der galt als naiv, blind oder wollte die Übergriffe kleinreden.

Es geht in der Debatte nach Köln nicht darum, massenhafte, konzertierte Übergriffe auf Frauen mit Gewalt auf dem Oktoberfest gleichzusetzen. Es geht nicht darum, mit dem Hinweis auf verbreitete häusliche Gewalt die Übergriffe zu »marginalisieren«. Es darf nicht darum gehen, verschiedene Arten von sexueller Gewalt klassifizieren zu wollen. Es geht nicht darum, es darf nicht darum gehen, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen.

All dies ist jedoch unglaublich leicht. Und noch leichter ist es, manchen zur Debatte Beitragenden genau so etwas vorzuwerfen.

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