nd-aktuell.de / 30.01.2016 / Politik / Seite 16

Rhabarber auf dem Gottesacker

Auf dem städtischen Friedhof im hessischen Dietzenbach kann man sich auf einen botanischen Lehrpfad begeben

Filip Lachmann, Dietzenbach
Originäre Grabflächen sind für den Kräuter- und Gemüseanbau natürlich tabu, aber sonst ist vieles möglich auf dem Friedhof von Dietzenbach in Hessen. Sogar Bananenstauden gibt es.

Noch herrscht Winterruhe auf dem Friedhof im hessischen Dietzenbach, aber bald wird es wieder mehr Besucher geben - und dies nicht der Grabstätten wegen. In den vergangenen Jahren jedenfalls lockte eine lokale Besonderheit zahlreiche Menschen an: Auf dem Gottesacker sprossen zahlreiche wohlschmeckende und aromatisch duftende Gewächse - von Mangold, Minze und Mirabellen über Rhabarber, Kohl und Esskastanien bis hin zum Heilkraut Beinwell. Selbst Bananenpflanzen gedeihen hier. Hinter der ungewöhnlichen Idee von dem botanischen Lehrpfad steckt Lutz Berger. Vor über drei Jahren begann der Gärtnermeister auf dem kommunalen Friedhof Tomaten, Fenchel und Co. zu kultivieren. Inspiriert hat den 53-Jährigen die »Essbare Stadt« Andernach in Rheinland-Pfalz, in der im gesamten Stadtgebiet Nutzpflanzen gedeihen, die von allen Bürgern für den eigenen Verzehr geerntet werden dürfen. Da es bei der gärtnerischen Ausgestaltung von Friedhöfen kaum Grenzen gibt, beschloss der gebürtige Dresdner dieses Konzept auch an seiner Arbeitsstätte umzusetzen.

Innerhalb der Stadt stieß der Pflanzenexperte mit seinem Vorhaben auf offene Ohren: »Die Verwaltung ist stets sehr aufgeschlossen gegenüber Innovationen und hat mir bei der Gestaltung freie Hand gelassen.« Nachdem sich Berger zunächst auf einzelne Testflächen beschränkte, weitete er seine Idee inzwischen auf das ganze Gelände des Parkfriedhofs aus. Allerdings gibt es nirgendwo auf dem 8,7 Hektar großen Areal reine Gemüsebeete, Kräutergärten oder Obstbaumalleen. Auch sind originäre Grabflächen für den Kräuter- und Gemüseanbau tabu. »Mit den Nutzpflanzen differenzieren wir vorrangig unsere dynamischen Staudenflächen. Denn sie liefern nicht nur Essbares für die Friedhofsbesucher, sondern passen auch optisch sehr gut zu den Pflanzungen«, erläutert Berger. Alles, was sich zum Essen oder Kochen eignet, kann von den Gästen der Anlage gepflückt werden. »Es liegt bekanntlich in der Natur des Menschen, Essen zu sammeln«, sagt Berger, der seit fast 30 Jahren im Dienst der Stadt Dietzenbach arbeitet. So beobachtet er regelmäßig Besucher, die sich zum Beispiel ein paar Zweige von seinen Pflanzungen abzupfen. Oftmals kommen sie dabei mit anderen Leuten ins Gespräch, fangen an über Erinnerungen zu berichten, die sie vor allem mit alten Obst- und Gemüsesorten verbinden. Gelegentlich wird auch Berger um Rat gefragt, beispielsweise was beim Anbau bestimmter Pflanzen zu beachten sei oder was er zur Bekämpfung von Mehltau empfehle.

Inzwischen haben sich die artenreichen Staudenflächen auf dem Dietzenbacher Friedhof als feste Begegnungsstätten innerhalb der Anlage etabliert. Zahlreiche Einwohner der Stadt besuchen die parkähnliche Einrichtung nur, um zu schauen, was momentan alles wächst. Berger liebt es, ständig neue Pflanzen in sein botanisches Reich zu integrieren. Zusätzlichen Mehraufwand bei der gärtnerischen Arbeit beschert die ungewöhnliche Leidenschaft Berger und seinen drei Kollegen nicht: »Die meisten Obst- und Gemüsepflanzen sind sehr pflegeleicht, sonst wäre das Projekt für uns gar nicht zu stemmen. In der Regel müssen wir nur gärtnerisch regulierend in die Pflanzungen eingreifen. Unsere Hauptaufgaben liegen selbstverständlich in der allgemeinen Pflege des umfangreichen Rahmengrüns eines Parkleitfriedhofes sowie in der Durchführung der Bestattungen.« Obwohl Berger gern und ausgiebig über seine besondere Gärtnerarbeit spricht, hat er bisher von noch keinem anderen Friedhof gehört, wo man dem Dietzenbacher Beispiel gefolgt wäre.