Rassismus ist das Problem, nicht Geflüchtete

Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der die Grenzen der Belastbarkeit von Wohnraum, Arbeit oder Bildung noch nicht annähernd erreicht sind

  • Nicole Gohlke, Hubertus Zdebel und Christine Buchhholz
  • Lesedauer: 8 Min.

Was die AfD stark macht ist nicht die Forderung der LINKEN nach offenen Grenzen für Menschen in Not, sondern der grassierende Rassismus, vor allem gegen Muslime und Geflüchtete. Wir widersprechen einer von Oskar Lafontaine und anderen nahegelegten Annahme, dass Rassismus eine »natürliche« Reaktion von Einheimischen auf hohe Einwanderungsbewegungen in Krisenzeiten sei und die Haltung »Flüchtlinge willkommen« die Arbeiterklasse überfordere und von der LINKEN verprelle.

Lafontaine beklagt zu Recht, dass die LINKE unter den abhängig Beschäftigten an Anhängerschaft verloren habe. Es ist jedoch irreführend, dafür die Flüchtlingspolitik der LINKEN verantwortlich zu machen. Die größten Verluste unter der Berufsgruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter gab es für die LINKE in der Zeit von 2009 bis 2013 (von 16% auf 12%) – lange vor der Flüchtlingskrise. Auch unter Erwerbslosen ging der Zuspruch stark zurück. Für viele hatte sich die Hoffnung auf stellvertretende Änderung der sozialen Verhältnisse durch ein Kreuz bei der LINKEN nicht materialisiert (»Links wirkt«). Trotz einer stärkeren LINKEN und eines Wirtschaftsaufschwungs ist damals der Umverteilungsprozess von unten nach oben weitergegangen.

Unsere Wahlparole von 2009 »Hartz IV muss weg« stand im Kontrast zur Tatsache, dass mit dem Kürzungspaket von Schwarz/Gelb (2010) die Hartz-Gesetze noch einmal verschärft wurden. Leiharbeit und prekäre Beschäftigung hatten explosionsartig zugenommen. Von 2013 auf 2017 gab es weiterhin Verluste unter der Berufsgruppe der »Arbeiter« (von 12% auf 10%); zugleich aber auch einen geringen Zuwachs bei den »Angestellten« (von 8% auf 9%, zwischen diesen Kategorien gibt es ohnehin keine klaren Trennlinien). Es stimmt, dass die LINKE bundesweit 400.000 Stimmen an die AfD abgeben musste. Hier wäre aber aufschlussreich genauer zu schauen, wer das wo und aus welcher Motivation getan hat. Das generelle Bild ist gezeichnet von Verlusten im Osten bei Zugewinnen im Westen. In München beispielsweise hat die AfD an DIE LINKE Stimmen verloren. Die Münchner LINKE hat sich mit großem Elan in der Flüchtlingssolidarität engagiert – stets unzweideutig gegen Seehofers »Obergrenze« und konnte ihr bestes Ergebnis einfahren. Auch in Berlin-Neukölln konnte DIE LINKE – trotz oder wegen? – einem klaren antirassistischen Profil ihren Stimmenanteil in einkommensschwachen Kiezen deutlich erhöhen und der AfD dort (im Vergleich zur Abgeordnetenhauswahl 2016) Verluste bescheren. Der Bezirksverband war sehr aktiv gegen rechts und hat zugleich auch soziale Proteste intensiv und mit antikapitalistischer Ausrichtung (»Menschen statt Profite«) begleitet.

Der Aufschwung der AfD ist keine »logische« Reaktion auf die kurzzeitige Öffnung der Grenzen für Geflüchtete im Jahr 2015. Es gibt keine Zwangsläufigkeit von sozialer Verunsicherung oder Verelendungstendenzen zur Ablehnung von Zuwanderung oder zur Zunahme von rassistischen Vorstellungen. Eine solche Deutung kann nicht erklären, warum es in einigen Ländern Europas Entwicklungen nach Links und in anderen eher nach Rechts gibt, trotz ähnlicher Krisenerfahrungen.

Beispiel Griechenland: die Krise und der soziale Abstieg waren hier am tiefsten und der Zustrom von Geflüchteten vergleichsweise hoch. Dennoch hat in Griechenland der Rassismus bisher keine annähernd so starke Wirkung gezeigt wie zum Beispiel in Österreich mit einem vergleichsweise intakten Sozialstaat und niedriger Arbeitslosigkeit. Die Krisen und damit einhergehende Existenzängste und tatsächliche Verarmung sind zwar ein Nährboden für den Aufbau der Rechten, seine Wurzel ist aber der Rassismus der bürgerlichen Mitte. In Griechenland hat eine starke Linke im Verbund mit Streik- und Protestbewegungen eine solidarische Perspektive für den Widerstand gegen Neoliberalismus greifbar gemacht und damit dem Ausgreifen rassistischer Sündenbockpolitik entgegenwirken können.

Welche politischen Schlussfolgerungen die Menschen aus Krisenerfahrungen ziehen, hängt davon ab, wie diese gedeutet, interpretiert werden. Nicht Wohnungsnot oder Arbeitslosigkeit oder andere Existenzängste führen zur Verbreitung rassistischer Einstellungen, sondern erst deren rassistische Deutung. Der Rassismus wird von oben geschürt: Von den Sarrazins, den Seehofers und den de Maizières. Sie setzen permanent Vorurteile gegen Muslime und Geflüchtete in die Welt, um von der eigenen Verantwortung für Fluchtursachen und soziale Spaltung abzulenken. Die Kampagne der AfD gegen Muslime ist deshalb so erfolgreich und brandgefährlich, weil der Islam seit den 90er Jahren von zahlreichen führenden Intellektuellen, PolitikerInnen und meinungsmachenden Medien zum Feindbild Nr. 1 der Außenpolitik (»Kampf der Kulturen«, Huntington 1997) und zum Sündenbock Nr.1 der Innenpolitik (»Deutschland schafft sich ab«, Sarrazin 2010) gemacht wurde. Dank dieser Vorarbeit konnte PEGIDA ihre größten Mobilisierungserfolge feiern lange bevor eine nennenswerte Anzahl von Geflüchteten in Dresden angekommen war. Auch mit dem Anti-Flüchtlingskurs konnte die AfD insbesondere dort punkten, wo die Unionsparteien selbst die rhetorische Steilvorlage lieferten (Sachsen und Bayern).

Oskar Lafontaines Aussage, sich gegen eine Begrenzung der Zuwanderung auszusprechen, »setze das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft«, folgt einer falschen Logik. Der deutsche Staat ist einer der reichsten der Welt. Niemand müsste arbeitslos oder wohnungslos oder arm sein. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der die Grenzen der Belastbarkeit von Wohnraum, Arbeit oder Bildung noch nicht annähernd erreicht sind. Politiker sprechen trotzdem von der angeblichen »Grenze der Aufnahmekapazität«, weil sie den existenten Reichtum nie für die Bedürfnisse aller eingesetzt haben, und es auch weiter nicht tun wollen. Wir müssen deutlich aussprechen, welches politische Spiel hier auf Kosten der Flüchtlinge gespielt wird, wenn von Rechts mal wieder versucht wird, die Ängste derjenigen zu mobilisieren, denen es ökonomisch schlecht geht und denen man nichts anzubieten hat, außer der Lüge, dass der Kuchen nicht für alle reicht.

Anstatt dem Märchen der Herrschenden von den vermeintlich bereits erreichten Kapazitätsgrenzen auf den Leim zu gehen, ist es die Aufgabe der LINKEN für eine gerechte Verteilung des Reichtums zu kämpfen. Wir fordern sozialen Wohnungsbau und ein Ende der Wohnungsspekulation. Wir kämpfen gegen Dumpinglöhne und für gleiche Rechte am Arbeitsmarkt. Nur durch Solidarität können wir hier Stärke entfalten. Ressentiments gegenüber Migrantinnen und Migranten, ein Diskurs »Deutsche zuerst«, sind dafür Gift. Insbesondere bei der Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung für soziale Gerechtigkeit treffen wir überall auf Belegschaften mit einem hohen Anteil von Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund. Deshalb ist das Projekt soziale Gerechtigkeit, die es ohne außerparlamentarische soziale Kämpfe nicht geben wird, untrennbar mit dem Kampf gegen Rassismus verbunden.

Ein aktuelles Beispiel ist die Kampagne von ver.di gegen die Abschiebung des afghanischen Krankenpflegehelfers Anwar Khan Safi, der mit mehr als 400 Beschäftigten des Klinikums Augsburg im September für einen Tarifvertrag Entlastung gestreikt hat. Der engagierte Gewerkschafter ist von Abschiebung ins Bürgerkriegsland Afghanistan bedroht, obwohl er in wenigen Tagen eine Ausbildung zum Krankenpfleger beginnen soll. Die Kolleginnen und Kollegen seiner Station machten das beim Warnstreik zum Thema und skandierten: »Keine Klinik ohne Anwar!« Belegschaften aus vielen anderen Krankenhäusern schickten Solidaritätsadressen und ver.di startete eine Petition für das Bleiberecht. So geht Klassenpolitik von links!

Wenn wir die Menschen in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen verstärkt für DIE LINKE gewinnen wollen, müssen wir eine neue Perspektive gesellschaftlicher Gegenmacht entwickeln. Als Katalysator für gesellschaftliche Kämpfe mit Hilfestellungen beim Aufbau von Widerstand können wir Durchsetzungskraft entfalten. Genau diesen Gedanken hatten Katja Kipping und Bernd Riexinger in einem Strategiebeitrag aufgenommen: »Die Partei DIE LINKE sieht sich nicht als Stellvertreterpartei, sondern als Organisation, die den Menschen in ihren Kämpfen für höhere Löhne und soziale Rechte, mehr Demokratie und Klimagerechtigkeit nützlich ist«, schreiben sie. »Unser Ziel ist es, schrittweise zu einer kampagnenfähigen und aktiven Mitgliederpartei zu wachsen. Also nicht nur Menschen eine Stimme zu geben, sondern sie zu ermutigen, selbst die Stimme zu erheben.« Wollen wir die arbeitende Klasse gewinnen, gilt es entsprechend betriebliche und gewerkschaftliche Kämpfe noch viel stärker ins Zentrum zu stellen, praktische Solidarität zu organisieren und darüber unsere Verankerung in den Betrieben und Gewerkschaften zu verbessern. DIE LINKE sollte Protestpartei sein – aber nicht in dem Sinne, dass sie bloß passiv die bestehende Unzufriedenheit oder gar Ressentiments widerspiegelt, sondern in jenem, dass sie Organisatorin eines Protests wird, der kapitalistische Ungerechtigkeit ins Visier nimmt und die Solidarität organisiert. Auf dieser Grundlage kann es uns gelingen, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verschieben und der grundsätzlichen sozialistischen Veränderung näher zu kommen.

Christine Buchholz, Nicole Gohlke und Hubertus Zdebel sind Mitglieder der Linksfraktion im Bundestag

Lesen Sie zu dieser Debatte auch:

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