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Es gibt keine »deutsche« Arbeiterklasse

Die LINKE repräsentiert gesellschaftliche Gruppen, die nur gemeinsam Antworten finden können

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor einigen Tagen lief dieser bemerkenswerte Satz eines Politikers über die Agenturticker: »Sozialstaat und unbegrenzte Zuwanderung funktioniert nicht zusammen«, lautete er. Für sich genommen verbirgt sich hinter dieser Behauptung nichts, was wir in der Vergangenheit nicht schon gehört hätten, wenn auch mit leichter Variation. Von einer »Zuwanderung in die Sozialsysteme« wahnfantasierte vor wenigen Jahren noch vor allem die NPD. Damals fiel es der gesellschaftlichen Mehrheit noch leicht, die Behauptung als asylfeindlich und rassistisch motiviert zu brandmarken.

Das Fatale ist: In der Gegenwart des Jahres 2017 ließe sich diese Behauptung einem Vertreter jeder im Bundestag vertretenden Partei in den Mund legen. Die AfD bestritt damit ihren Wahlkampf, die Union und auch Politiker der SPD erklärten, Deutschland dürfe in der Asylfrage nicht »zu viel« zugemutet werden. Kein Parteivertreter brachte den Mut auf, zu anworten: Anstatt uns über willkürlich zu setzende Obergrenzen zu streiten, sollte es darum gehen, möglichst vielen Menschen zu helfen.

Doch weil es innerhalb des real existierenden Kapitalismus mit seinen zum Wettbewerb gezwungenen Nationalstaaten für jeden Akteur ökonomisch tatsächlich unterschiedlich hohe Belastbarkeitsgrenzen gibt, traute sich niemand eine alternative Antwort zu. Stattdessen wurde eingangs benannter Satz wiederholt, obwohl seine zweite unübersehbare Ebene rassistisch ist: Es wird suggeriert, dass die Zugewanderten (und Geflüchteten) per se dauerhaft vom Sozialsystem abhingen und dieses dadurch letztlich zerstörten, womit es schließlich auch dem deutschen Staatsbürger irgendwann nicht mehr zur Verfügung stehen würde. Ergo: Eingewanderte und die hiesige Bevölkerung, primär Niedriglöhner und Erwerbslose, stünden in einer Konkurrenz, vor der es die heimische Arbeiterschaft zu schützen gelte.

Getrennte Lebenswelten
Christian Baron sagt: Sahra Wagenknecht und Katja Kipping repräsentieren gesellschaftliche Gruppen, die sich nichts mehr zu sagen haben.

Sahra Wagenknecht ließ sich wiederholt auf ein sehr ähnliches Argumentationsmuster ein. Unterstützer der Linksfraktionschefin argumentieren, sie versuche mit ihrer Kritik an der existierenden Lohnkonkurrenz zwischen Geflüchteten und den sogenannten (deutschen) Geringqualifizierten, letztere Gruppe als anschlussfähig für linke Politik zu erhalten. Getreu dem Motto: Der rote Faden zum deutschen Arbeiter darf um keinen Preis reißen!

Bezeichnend ist, dass bei dieser Argumentation die Interessen der Geflüchteten denen der hierzulande bereits lebenden Prekarisierten entgegengesetzt werden. Dabei eint sie über Staatsgrenzen hinweg ein Umstand, der Teil jeder linken Analyse sein sollte: Sie alle gehören zur Klasse der Besitzlosen, wenngleich die Folgen der Flucht so manchen erst einen sozialen Abstieg bescherten.

Wagenknecht unterliegt einem fatalen Fehler: Anstatt aus der Opposition heraus eine linke Gegenerzählung zu entwickeln, befeuert sie ohne Not die Erzählung von einer »deutschen« Arbeiterklasse, die vor Kräften von außen geschützt werden müsse. Zwar fällt ihr auf, dass der Neoliberalismus die Schwächsten gegeneinander ausspielt, erkennt aber gleichzeitig nicht an, dass Teile der Unterklasse bereits den gleichen Geist der Konkurrenz-, Nützlichkeits-, und Verwertungslogik atmen. »Uns hilft ja auch keiner«, ist ein in diesem Zusammenhang oft fallender Vorwurf. Soll die Linke nun auch diesen Leuten nach dem Munde reden, nur um sie nicht an die Rechte zu verlieren?

Zu allem Überdruss erfolgt dann, nicht nur von Wagenknecht, oft der Appell, die Sorgen und Ängste der »kleinen Leute« zu beachten, doch von der Linksfraktionsvorsitzenden wird über ihre Analyse hinausgehend kein gesamtgesellschaftlicher Gegenentwurf skizziert. Frei von Ironie bleibt dieser Mangel nicht. Anstatt das Fehlen solcher Entwürfe anzuprangern, werden nun jene unter dem verkürzten Label der »Realos« attackiert und etwa das »Institut solidarische Moderne« auf die Funktion als rot-rot-grünes Regierungsvorbereitungsprojekt reduziert, obwohl gerade aus diesem Teil der Linken Ansätze kommen, die über das politische Alltagsgeschäft hinausreichen.

Häufig erklingt in diesem Zusammenhang der Vorwurf, wonach dieses oft akademisch geprägte Milieu, keine Ahnung (und kein Interesse?) von den sozialen Widersprüchen habe, aber gleichzeitig über einen privilegierten Zugang zur Bildung verfügt, um Verhältnisse und herrschende Meinungen zu hinterfragen. Übersehen werden sollte allerdings nicht, dass die aus diesem akademischen Milieu heraus entwickelten Ideen durchaus an den Grundfesten der herrschenden Verhältnisse rütteln. So warb Linkspartei-Chefin Katja Kipping schon vor zehn Jahren für das von der Soziologin Frigga Haug konzipierte Modell vom »Leben im Viervierteltakt«. Grob vereinfacht geht die Idee davon aus, dass es vier gleichwertige Lebensbereiche gibt, die sich in Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Weiterentwicklung sowie Muße und Politik unterteilen. Abzüglich einer veranschlagten achtstündigen Schlafenszeit soll jeder Mensch in etwa gleich viel Zeit in die benannten vier Bereiche investieren können. Die zur Umsetzung notwendigen politischen Maßnahmen wären radikal: Angefangen bei einer damit zwingend verbundenen deutlichen Verkürzung der täglichen Erwerbsarbeit ließe sich das Modell unter anderem auch mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens kombinieren. Konkrete Projekte in diese Richtung würden die vom Neoliberalismus befeuerte Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse stark ausbremsen. Ein weiterer Vorteil: Jene, die aufgrund prekärer Beschäftigung an den politischen Debatten nur selten teilnehmen, da der Existenzkampf ihre körperlichen wie geistigen Ressourcen bindet, bekämen die Möglichkeit, leichter am Diskurs teilzunehmen und ihrerseits eigene gesamtgesellschaftliche Konzepte zu entwickeln, die über das Benannte auch hinausgehen könnten.

Doch schon länger traute sich insbesondere die Linkspartei kaum noch, solche Gesellschaftsentwürfe breiter zu diskutieren, da sie im Kampf gegen eine drohende rechte Hegemonie zuletzt nur noch reagierte und nicht mehr agierte. Die Neue Rechte ging ihrerseits durchaus klug vor, ihre intellektuellen Vordenker etikettierten das alte völkische Denken in jahrelanger Arbeit in einen vermeintlichen Kulturkampf um, der über den Weg der Sarrazins und Sloterdijks nie aus dem Bürgertum verschwundenes Gedankengut zu einer neuen Eruption verhalf. Nicht zufällig rekrutiert sich der AfD-Führungsapparat aus jenen sogenannten Eliten.

Es muss klar sein, dass die darauf zu findenden Antworten keine linken Projekte sind, die sich binnen einer parlamentarischen Legislatur realisieren ließen. Ebenso unklar bleibt, wie viele Kräfte aus dem Umfeld von Grünen und Sozialdemokratie sich gewinnen lassen, wenngleich ihr pauschaler Ausschluss den Verlust von Denkansätzen bedeutete, etwa was die ökologische Frage angeht. Manch Linker verfällt reflexartig in eine Abwehrhaltung, weil Kritik an Fleischverzehr, Massenkonsum und Individualverkehr leicht als Probleme eines kulturell arrivierten, oftmals besserverdienenden Milieus abgetan werden. Dabei stellen sich auch hier gesamtgesellschaftliche Fragen, die über Milieugrenzen hinaus nach Antworten drängen.

P.S.: Der eingangs zitierte Satz ist vom CDU-Politiker Jens Spahn.

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