Eisbrecher und Primaballerina

Der LINKE-Politiker Gregor Gysi wird 70 und blickt auf sein Leben zurück

Das Buch beginnt mit einer Pointe. Wie auch sonst bei diesem Autor? »Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit ›ich‹ beginnen soll«, heißt ein dem Band als Motto vorangestellter Satz. Und der erste wirkliche Satz lautet - natürlich: »Ich kann von meinem Leben nicht behaupten, es verlaufe sehr ruhig.« So ist das in der Politik wie im Leben: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Und speziell dieser keinesfalls ungern.

Gregor Gysi hat vorgesorgt für den unwahrscheinlichen Fall, dass niemand an seinen Geburtstag denkt, und seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Vielleicht wollte er auch nur schneller sein als all jene, die sich jetzt über ihn verbreiten; sie kommen nicht umhin, sein Buch »Ein Leben ist zu wenig« gleich mit zu betrachten. Wenn schon gesungen wird, will man wenigstens den Ton vorgeben.

Allerdings werden sich längst nicht alle daran halten. Denn Gysi ist eine spektakuläre Figur. Gesegnet mit Freund und Feind, mit großer Klappe und einer Rhetorik, die nicht so schnell ihresgleichen findet. Erbe eines historischen Zusammenbruchs, Protagonist eines Um- und Aufbruchs. Geliebt und gehasst, respektiert und verachtet. Unversehens in den Strudel einer Zeitenwende geworfen und nicht untergegangen.

Der Geschichte hat es in den Wirren der Wendezeit vor fast 30 Jahren gefallen, Gregor Gysi in ein neues Leben zu katapultieren. Heraus aus Anwaltskanzlei und Gerichtssaal, hinein in die Politik, in die Öffentlichkeit. In den Überlebenskampf eines Landes und einer Partei. Plötzlich Politiker. Es gibt Situationen, in denen Menschen über sich hinauswachsen in einem Maße, das sie bis dahin nicht für möglich gehalten haben. Gysi war das Antibild des Funktionärs, als die alten Funktionäre endgültig versagten. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, die PDS hätte ihn erfinden müssen. Er war eine, wenn nicht die Stimme der Ostdeutschen, als die Ostdeutschen sich unverstanden fühlten. Er erwarb mit der Zeit Respekt selbst bei Leuten, die ihn und seine Partei seinerzeit zum Teufel wünschten.

Das schreibt sich leicht hin in einem Satz, war aber Schwerstarbeit über Jahre, Jahrzehnte. Davon berichten ein Dokumentarfilm (»Gysi«), der im MDR lief, wie auch sein Buch. Es ist ein ziemlicher Wälzer; Gysi tut darin das, was er am besten kann: mal prägnant, mal ausschweifend erzählen, unterhaltsam und ironisch. Ein Rückblick in Anekdoten, gern auch mit Moral.

Allein die Familiengeschichte hat es in sich. Vor allem Gysis Schwester Gabriele betrieb Ahnenforschung; die Schicksale ihrer Vorfahren spiegeln auf atemberaubende Weise europäische und deutsche Historie der letzten beiden Jahrhunderte. Das auszubreiten wäre ein Buch für sich. Bis hin zu den Eltern - jüdische Antifaschisten, die unter Lebensgefahr gegen die Hitler-Diktatur kämpften und dann die DDR mit aufbauten, hin- und hergerissen zwischen Weltläufigkeit, kritischem Bewusstsein und Parteidisziplin.

Vielleicht ist das ein Teil der Erklärung dafür, warum Gregor Gysi sich der Ochsentour unterwarf, für seine Partei das Gesicht hinzuhalten, die in dem neuen, großen Deutschland eine beachtliche Mehrheit nicht wollte. Was für eine unglaubliche Verantwortung: einen riesigen, zusammenbrechenden Parteiapparat und ein schier unüberschaubares Firmengeflecht zu übernehmen und in kürzester Zeit abzubauen bzw. in rechtsstaatliche Verhältnisse zu überführen. Die in den Wendemonaten 1989/90 einsetzende weitgehende politische Isolation der Rest-SED zu durchbrechen. Mit dem großen Besen vom Sonderparteitag Ende 1989 den Laden auszufegen und gleichzeitig an die Zukunft zu denken, von der damals niemand wusste, wie sie in sechs, acht, zwölf Wochen aussehen könnte. Dafür zu sorgen, dass auf den Trümmern der SED etwas Neues entstehen kann, damit eine linke Perspektive in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Jahrzehnte hinaus verbaut ist.

Gysi hat dabei lange die Hauptlast getragen. Er saß schon in den Talkshows, da war die PDS noch das Schmuddelkind der Nation. Er lernte, mit - nicht zuletzt antisemitischen - Anfeindungen umzugehen, denen er jahrelang ausgesetzt war. Mal subtil in den Medien, mal brachial im Bundestag, mal aggressiv am Rande von Veranstaltungen. Mal betraf es die Stasi-Vorwürfe gegen Gysi wegen seiner Anwaltstätigkeit in der DDR, mal das Auslandsvermögen der SED, mal den Versuch, die PDS fiskalisch zu erledigen. Ein Polizist, der Gysi Anfang der 90er nach einem Wahlkampfauftritt im Westen Deutschlands sicherheitshalber aus der Stadt eskortierte, sagte ihm: »Damit wir uns nicht missverstehen: Meinetwegen können Sie erschossen werden, aber nicht in meiner Stadt.« Gysis Kommentar: Es wäre durchaus beruhigend, wenn die Polizeichefs aller Städte so denken würden. Das Schockierende als Scherz, Sarkasmus als Lebenshilfe.

Irgendwann stabilisierte sich die PDS, irgendwann gelangen sachte Fortschritte im Westen, irgendwann gehörte die Partei in der Bundespolitik einfach dazu. Nach einer Krise der PDS trat Oskar Lafontaine in Gysis politisches Leben, die Linkspartei entstand als Antwort auf die unsozialen Hartz-Gesetze - ein Schritt zu einer wirklich gesamtdeutschen Linken. Gysi beschreibt die Annäherung, die damit verbundenen Hoffnungen. Mit einem Mal hatten die Linken zwei Stars, einander zugetan in einer Mischung aus Freundschaft und Konkurrenz. In Ansätzen spricht Gysi auch von den Differenzen, der leise einsetzenden, später offenen Entfremdung.

Dass die Linkspartei eine feste politische Größe geworden ist, wäre in diesem Maße ohne jemand wie Gysi kaum denkbar gewesen: Parteivorsitzender und Fraktionschef, Diva und Primaballerina, Eisbrecher und Botschafter, Zuspitzer und Vermittler. Dass er zum politischen Inventar der Bundesrepublik gehört, dass seine Geplänkel im Bundestag mit Parlamentspräsident Norbert Lammert Kultstatus erlangten, mag heute beinahe als Selbstverständlichkeit erscheinen; allerdings ist es ursächlich das Ergebnis einer langen, zehrenden Selbstbehauptung der Person Gysi und seiner Partei.

Er hat sich aufgerieben, im Dienste dieser Partei, im Licht der Öffentlichkeit, im Sog seiner Eitelkeit. Mit Konsequenzen für die Gesundheit, für den Freundeskreis und die Familie. Die wichtigste Währung dafür heißt Zeit und die hatte er nicht. Oder er nahm sie sich nicht. Darüber sprach er in bewegender Weise in seiner (vorläufig) letzten Parteitagsrede, und darüber denkt er nun in seinem Buch nach. Schon vor Jahren warnte er sich selbst und andere davor, irgendwann als wandelnde Drucksache durchs Leben zu gehen. Heute lautet seine Botschaft: »Nehmt euch nicht so wichtig.«

An diesem Dienstag wird Gregor Gysi 70 Jahre alt. Er schreibt, debattiert, steht der Europäischen Linken vor, sitzt im Bundestag inzwischen ganz hinten, moderiert im Deutschen Theater in Berlin eine erfolgreiche Gesprächsreihe. Und er hat noch einiges vor. Der letzte Satz in seinem Buch heißt nicht umsonst: »Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen.«

Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie. Aufbau-Verlag, 583 S., geb., 24 €, als Hörbuch 19,99 €. Den Dokumentarfilm »Gysi« kann man auf www.mdr.de/mediathek sehen.

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