Gesellschaftlicher Aufbruch statt neue Partei

Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler zum Vorschlag von Oskar Lafontaine für eine »neue linke Sammlungsbewegung«

  • Kathrin Vogler
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Oskar Lafontaine fordert seit einiger Zeit in Presseartikeln und Interviews eine »neue linke Sammlungsbewegung«, aus der so etwas wie eine neue Volkspartei entstehen solle. Ausgangspunkt dafür ist der Niedergang der SPD, die mit der Agenda 2010 und dem Ausbau des Niedriglohnsektors, der Privatisierung der Renten und der Entlastung der Reichen in diesem Land als »ehemalige Arbeiterpartei die Seiten gewechselt« habe. Für welche Zielgruppe hat Lafontaine seine Erzählung von der »neuen linken Sammlungsbewegung« eigentlich verfasst?

Oskar Lafontaine hat genug Erfahrung mit und in der Sozialdemokratie, um die Wirkung seiner Worte unmittelbar nach Beginn der Sondierungen für eine neue Große Koalition auf die geschundenen Seelen linker SozialdemokratInnen einschätzen zu können. Dass ein solcher Vorstoß dort nicht als Angebot, sondern eher als Drohung aufgefasst wird, liegt auf der Hand, haben doch vor allem links verortete SozialdemokratInnen ihm seinen Weggang aus der SPD bis heute nicht verziehen. Und für den linken Flügel der Grünen ist Lafontaine ein rotes Tuch, sowohl umwelt- als auch gesellschaftspolitisch.

Kathrin Vogler
Kathrin Vogler ist seit 2009 Bundestagsabgeordnete für die LINKE. Ihr Wahlkreis liegt in Nordrhein-Westfalen. Seit 2015 ist Vogler gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Bis 2001 war Vogler Mitglied der SPD. Als Anlass für ihren Austritt nannte sie die „geschlossene Unterstützung der SPD-Fraktion im Bundestag für den Krieg gegen Afghanistan und die geplante Entsendung von Bundeswehreinheiten in diesen Krieg“. 

Seine Partei, die LINKE, kritisiert er für ihre Flüchtlingspolitik. Diese sei falsch, weil sie »90 Prozent der Flüchtlinge außen vor lasse«, nämlich diejenigen, die es nicht bis nach Deutschland und Europa geschafft hätten. Dann verweist er noch darauf, dass die Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland um ein Vielfaches höher seien als für diejenigen, die in den Nachbarländern ihrer Heimat aufgenommen werden.

Hier führt Oskar Lafontaine allerdings in die Irre. Keine andere Partei als die LINKE hat seit 2015 so oft darauf hingewiesen, dass es zwar notwendig ist, diejenigen, die es bis nach Deutschland geschafft haben, aufzunehmen, menschenwürdig unterzubringen und ihnen die Integration zu erleichtern, aber eben auch, mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und zivile Friedensprojekte aufzubringen, damit die tatsächlichen Fluchtursachen bekämpft werden. Keine andere Partei hat sich mit dieser Konsequenz den Rüstungsexporten und der Waffenlobby entgegengestellt, wie das die LINKE getan hat.

Und Lafontaine verschweigt, warum die Kosten für die Flüchtlinge in den Nachbarstaaten der Krisengebiete so niedrig sind: Massenunterkünfte ohne Infrastruktur, schlechte Versorgung und Verweigerung von Menschenrechten sind in den Aufnahmeländern Standard. In Libanon etwa müssen Geflüchtete die Unterbringung in privaten Camps teuer bezahlen und werden zugleich als illegale und damit rechtlose Arbeitskräfte ausgebeutet. In der Türkei sorgen Flüchtlingskinder als billige Arbeitskräfte dafür, dass schicke Klamotten und Schokoladenaufstrich in Deutschland nicht teurer werden. Und in Libyen werden Geflüchtete in Lagern eingesperrt, gefoltert und versklavt.

Lafontaine redet in seiner Kritik an Angela Merkel und ihrer überraschenden Grenzöffnung 2015 vom »Kontrollverlust des Staates« – eine Begrifflichkeit, die sonst von ganz rechts verwendet wird. Auch die Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, Sahra Wagenknecht, hat diesen Begriff gelegentlich verwendet. Warum ist dieser Begriff zu kritisieren? Natürlich gab es nach der vorübergehenden Grenzöffnung 2015/2016 große Schwierigkeiten bei der kurzfristigen Bewältigung eines Zuzugs von etwa 800.000 Menschen nach Deutschland. Ein »Kontrollverlust« war dies allerdings nicht.

Fast alle Eingereisten wurden registriert, untersucht, erstverpflegt und untergebracht – häufig unter großen Anstrengungen der beteiligten Behörden und Hilfsorganisationen. Hunderttausende Menschen engagierten sich spontan und halfen mit. Der Staat allein war mit dieser Situation überfordert, die deutsche Gesellschaft war es nicht. Zudem verstärkt dieser Begriff die Ängste vieler Menschen vor dem Fremden, das die Vertriebenen mit nach Europa bringen. Dabei wäre es notwendig, eine rationale Debatte darüber zu führen, wie Integration gelingen kann, ohne dass es zu einer verschärften Konkurrenz auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten kommt. Auch dazu hat es viele wichtige Hinweise von Flüchtlingsinitiativen und von linken Abgeordneten auf Kommunal- und Landesebene gegeben und die Bundestagsfraktion hat dazu unter Federführung von Sevim Dagdelen ein erstes Konzept entwickelt.

Lafontaine tut so, als gäbe es dies alles nicht. Er kritisiert die FlüchtlingshelferInnen, die vor ihrer eigenen Haustür das taten, was im Bereich ihrer Möglichkeiten lag, und diejenigen in seiner Partei, die mit ihnen und den Geflüchteten solidarisch sind, als VertreterInnen eines »National-Humanismus«. Dabei sind sie es, die den Internationalismus, der für linke Bewegungen unverhandelbar ist, in zeitgemäßem Gewand leben.

Wäre es nicht notwendig angesichts des Wettbewerbs der anderen Parteien von Boris Palmer bis Christian Lindner mit nationalistischen Tönen Mehrheiten zu sichern, eine humanistische Sammlungsbewegung mit klar antifaschistischem und antirassistischem Profil zu schaffen, die weit über die Grenzen der politischen Linken und der im Bundestag vertretenen Parteien hinausgeht?

Das sollte aber keine neue Partei oder Wahlbewegung sein, sondern ein gesellschaftlicher Aufbruch all derer, die sich den Grundrechten, den Werten des Grundgesetzes und der historischen Verantwortung dieses Landes verpflichtet fühlen. Wir leben in einer Zeit, in welcher sich der rechte Rand anschickt, die bürgerliche Demokratie zu zerstören, worauf die bürgerlichen Parteien keine Antwort haben, außer den Rechten entgegen zu kommen.

Zu verteidigen gibt es viel: Vom Sozialstaatsgebot, das längst eine Umverteilung erfordert hätte, über die Meinungs- und Gewissensfreiheit und die Menschenwürde bis hin zum Friedensgebot. Die Rechtsstaatlichkeit braucht neue Impulse, denn der Rechtsstaat ist für viele BürgerInnen mangels Einkommen und Vermögen nur eingeschränkt verwirklicht. Wer schon einmal gegen einen Großkonzern mit gigantischer Rechtsabteilung klagen musste oder als Patient versucht hat, sein Recht gegen einen Klinikbetreiber oder seine Krankenversicherung durchzusetzen, weiß das. Aber auch die Massen falscher Hartz-IV-Bescheide und unrechtmäßiger Sanktionen gegen jene, die sich am wenigsten wehren können, sprechen Bände.

Wir haben einen Mangel an Demokratie. Wenn Lobbyisten in Hinterzimmern Gesetze auskungeln, die ihren Auftraggebern genehm sind, und höchste Repräsentantinnen des Staates einer »marktkonformen Demokratie« das Wort reden, darf man sich nicht wundern, wenn sich immer mehr Menschen von dieser Form der Demokratie nicht vertreten fühlen. Die Privatisierung und Ökonomisierung weiter Bereiche dessen, was einmal öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge war, macht die Bürgerinnen und Bürger zu Kunden und verlagert gesellschaftlich relevante Entscheidungen aus demokratischen Institutionen in einen von Kapitalkräften gesteuerten Markt.

Es gibt viele Menschen in diesem Land, die sich durch diese Politik völlig zu Recht enteignet und entmündigt sehen. Mit ihnen gemeinsam Widerstand zu entwickeln, das wäre eine Sammlungsbewegung, die den gesellschaftlichen Diskurs wieder nach links öffnen und perspektivisch die Machtverhältnisse in diesem Land verändern könnte.

Dabei muss eine politische Partei immer darauf achten, soziale Bewegungen nicht zu bevormunden oder zu instrumentalisieren, sondern ihre Eigenständigkeit zu achten und sie als Partner im Ringen um gesellschaftliche Veränderungen zu begreifen. Schon heute repräsentieren die sozialen Bewegungen genau das, was Oskar Lafontaine einfordert: eine parteiübergreifende und parteiunabhängige, aber nicht unpolitische Sammlungsbewegung.

Der große Verdienst der Partei DIE LINKE in den zehn Jahren ihrer Existenz ist es, das scheinbar Alternativlose am Kapitalismus neoliberaler Prägung konsequent infrage zu stellen und Alternativen aufzuzeigen: gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische. Ihre wesentlichen Forderungen wird aber die LINKE nur dann durchsetzen können, wenn sie noch intensiver nicht nur an parlamentarischen, sondern an gesellschaftlichen Mehrheiten arbeitet.

Widerstand ist nämlich Handarbeit. Er beginnt dort, wo ein Hartz-IV-Empfänger, ermutigt und unterstützt von einer Selbsthilfegruppe, sich erstmals gegen einen Bescheid des Jobcenters wehrt oder wo Pflegekräfte in einem Krankenhaus zum ersten Mal gegen unerträgliche Arbeitsbedingungen streiken.

Eine Sammlungsbewegung, in der die Krankenschwester den Hartz-IV-Bezieher unterstützt und der den Streik der Pflegekräfte, in der Friedensgruppen Zivilcourage-Trainings für Klimaschützer organisieren und Gewerkschafterinnen die Flüchtlingssolidarität fördern – die ist überfällig. Wie allerdings durch die Spaltung der Partei DIE LINKE und eine Abgrenzung gegenüber dem humanistischen Potenzial in der Gesellschaft eine erfolgreiche Sammlungsbewegung initiiert werden kann, die wirklich links und damit sozial, humanistisch und demokratisch ist, das bleibt das Geheimnis von Lafontaine und Wagenknecht.

Zur Debatte über eine »neue linke Sammlungsbewegung« sind bereits folgende Beiträge erschienen:

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