Kein friedlicher 1. Mai in der Türkei

Anschläge und Polizeirepression überlagern Gewerkschaftsthemen am ArbeiterInnenkampftag

  • Ismail Küpeli
  • Lesedauer: 3 Min.
In der Türkei wurden in mehreren Städten 1. Mai-Veranstaltungen wegen Anschlägen und Anschlagsdrohungen abgesagt.

Bereits in den Tagen vor dem 1. Mai war zu erkennen, dass es am ArbeiterInnenkampftag in der Türkei nicht friedlich bleiben würde. Der Gouverneur von Istanbul untersagte alle Veranstaltungen am symbolträchtigen Taksim-Platz und machte deutlich, dieses Verbot mittels eines massiven Polizeieinsatzes durchzusetzen. Dafür wurden in Istanbul 15 000 Polizisten und 120 Wasserwerfer mobilisiert. Die Gewerkschaften haben das Verbot akzeptiert und wichen auf einen alternativen Kundgebungsort in Bakirköy aus. Nicht zuletzt aus Einschüchterung durch Erfahrungen mit Polizeigewalt in ähnlichen Fällen und der momentan mehr als angespannten innenpolitischen Lage in der Türkei.

Auch in anderen Städten wurden staatliche Behinderungen gemeldet, sodass die Demonstrationen und Kundgebungen bisweilen nicht an zentralen Plätzen stattfinden konnten. In Adana sagten die Organisatoren der 1. Mai-Kundgebung die Veranstaltung ab, nachdem sie Hinweise erhielten, dass Adana Ziel eines Selbstmordanschlages sein könnte. Dass dies nicht unbedingt eine leere Drohung sein könnte, bewies der Anschlag in Gaziantep gegen das dortige Polizeipräsidium. Dabei wurden zwei Polizisten getötet und über 20 Menschen verletzt. Türkische Medien berichteten, dass der sogenannte Islamische Staat für die Tat verantwortlich sei. Nach dem Anschlag sagten die Organisatoren die 1. Mai-Veranstaltungen in Gaziantep, Urfa und Mersin ab, weitere Städte könnten folgen.

In Istanbul haben sich indes nicht alle DemonstrantInnen mit dem Demonstrationsverbot am Taksim-Platz abgefunden. Linke und linksradikale Gruppen versuchten immer wieder, zum Taksim-Platz zu gelangen, wurden aber von der Polizei aufgehalten. Dabei setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein und nahm Dutzende Menschen fest. Ein Wasserwerfer der Polizei überfuhr und tötete einen Passanten in der Nähe des Taksim-Platzes.

Die Gewerkschaften, die linke Oppositionspartei HDP und zivilgesellschaftliche Organisationen mobilisierten zu der zugelassenen Kundgebung in Bakirköy/Istanbul, an der etwa 50 000 Menschen teilnahmen. Hier waren, anders als in Taksim, gewaltsame Polizeieinsätze weitgehend ausgeblieben, bis die HDP-DemonstrantInnen eintrafen. Die Polizei behinderte die HDP-Kolonne und setzte Tränengas ein. Auslöser für diese Auseinandersetzung, wobei ein Demonstrant verletzt wurde, scheint ein Transparent zu sein, der den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei ansprach.

In westtürkischen Städten wie etwa Izmir oder Bursa gingen Tausende Menschen auf die Straße. Eine der zentralen Forderungen dieses Jahr war der Erhalt des Säkularismus in der Türkei, den viele DemonstrantInnen in Gefahr sehen. Auslöser hierfür waren Äußerungen des Parlamentspräsidenten Ismail Kahraman von der Regierungspartei AKP, der eine neue »islamische Verfassung« forderte, in der kein Platz für den Säkularismus sein sollte. Inzwischen hat die AKP durch den massiven öffentlichen Druck zurückgerudert und diese Äußerung zu einer Privatmeinung herabgestuft.

In den umkämpften kurdischen Gebieten im Osten des Landes sind 1. Mai-Veranstaltungen aufgrund von Krieg, Ausgangssperren und tagtäglich stattfindenden Anschlägen weitgehend undenkbar. Eine relativ kleine 1. Mai-Kundgebung mit einigen Tausend Menschen fand in der kurdischen Metropole Diyarbakir statt. Aus Angst von Anschlägen wurde in Diyarbakir auf eine Demonstration verzichtet. In vielen anderen kurdischen Städten gab es keinerlei Veranstaltungen.

Der 1. Mai 2016 in der Türkei wurde so weniger von gewerkschaftlichen Themen bestimmt als vielmehr von einer autoritären Regierung, die Proteste gewaltsam unterdrückt, von einem Krieg, der das öffentliche Leben in den kurdischen Gebieten zum Erliegen gebracht hat und von den inzwischen schon fast wöchentlichen IS-Anschlägen. Die tiefe gesellschaftliche Krise ist unübersehbar.

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