Fortschrittsoptimismus oder Care-Ethik?

Paul Mason, die Akzelerationisten, César Rendueles: Über die Leerstellen der neuen Postkapitalismus-Debatte

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 8 Min.

Wie sehr der Neoliberalismus nicht nur »von oben«, sondern auch aus der Gesellschaft heraus produziert wird, hat sich seit 2008 nicht zuletzt daran gezeigt, wie wenig über Alternativen zum Kapitalismus gesprochen wurde. Obwohl das globale Kreditsystem fast kollabierte, scheint etwas Anderes als der Kapitalismus auch heute undenkbar. Selbst in der Linken geht es eher um Korrekturen als um Alternativen. Thomas Piketty mahnt eine bessere Verteilung der Vermögen an, Axel Honneth plädiert mit Gemeinplätzen für eine soziale Bürgergesellschaft, Mark Terkessidis lobt Kooperation und Eigenverantwortung in Projekten - auch unter neoliberalen Vorzeichen. Eine Debatte, die dem fragilen Zustand des Kapitalismus angemessen wäre, ist das alles nicht.

Erst jetzt, mit fast zehnjähriger Verspätung hat man den Eindruck, es könnte vielleicht doch noch zu einer Postkapitalismus-Diskussion kommen. Vor allem aus England, wo Maggie Thatcher in den 1980er Jahren die Alternativlosigkeit zum historischen Gesetz erhob, wird die Neuerfindung der Zukunft gefordert. Bemerkenswert ist dabei nur nicht, was Autoren wie der Poptheoretiker Mark Fisher, die Akzelerationisten Nick Srnicek und Alex Williams oder der BBC-Journalist Paul Mason schreiben, sondern dass sie mit ihren Interventionen überhaupt größere Resonanz erzielen.

Der Autor

Raul Zelik, Jahrgang 1968, ist Schriftsteller, Politikwissenschaftler und Aktivist. Bis 2013 war er Professor an der Nationaluniversität Kolumbiens. Er ist seit 2012 Mitglied der Linkspartei und war 2016 an der Gründung der Demokratiebewegung DiEM25 um Yanis Varoufakis beteiligt. Zuletzt erschienen von ihm »Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien« bei Bertz+Fischer sowie »Im Multiversum des Kapitals. Wer herrscht wie, wer protestiert, wer nicht und warum nicht?« bei VSA Hamburg. Auf dem LINKE-Parteitag in Magdeburg wurde Zelik in den erweiterten Vorstand gewählt.

Die Postkapitalismus-Debatte ist nämlich mit einem doppelten Problem konfrontiert. Sie sollte nicht hinter die Marxsche Kritik am utopischen Sozialismus zurückfallen, wonach Befreiung keine Frage guter Ideen und erleuchteter Führungen ist, sondern aus materiellen Bedingungen und sozialen Kämpfen hervorgeht. Zum Anderen müssen Alternativkonzepte aber auch konkret genug werden, um Handlungshorizonte aufzuzeigen und etwas in Bewegung zu setzen. Ein Antikapitalismus, der überhaupt keine eigenen Entwürfe wagt, bleibt letztlich nämlich ebenfalls im Idealismus verhaftet. Ohne gesellschaftliche Wirkmächtigkeit ist auch die radikalste Kritik nur eine intellektuelle Fingerübung.

Der Marxismus hat dieses Dilemma zu lösen versucht, indem er revolutionären Entwicklungstendenzen im Bestehenden nachspürte. Dabei hat sich allerdings gezeigt, dass die Geschichte weitaus weniger gradlinig verläuft als erhofft. Weder hat das Proletariat als kollektiver Akteur »zu sich selbst« gefunden, noch hat der technische Fortschritt im Kapitalismus den Emanzipationsbewegungen besonders viel genutzt.

Seltsamerweise tut die neue, aus Großbritannien kommende Postkapitalismus-Debatte, als gäbe es diese Erfahrungen nicht. Vor allem bei den Akzelerationisten Srnicek und Williams (»Inventing the Future«, Verso), die auf die Beschleunigung des technischen Fortschritts und auf eine durch Automatisierung möglich werdende Befreiung von der Arbeit setzen, kommt das Fortschrittsversprechen erschreckend geschichtslos daher. Dabei ist es sehr begrüßenswert, wenn Linke zur Abwechslung mal nicht nur depressive Weltuntergangsszenarien produzieren. Doch die Frage, warum technischer Fortschritt von nun an den Menschen und nicht, wie in den vergangenen fünf Jahrtausenden, in erster Linie den herrschenden Klassen zugute kommen sollte, müsste doch zumindest ansatzweise beantwortet werden.

Da ist Paul Masons »Postkapitalismus« (Suhrkamp) wenigstens einen kleinen Schritt weiter. Seine Antwort lautet: weil die privatwirtschaftliche Produktion in einer Wissens- und Informationsgesellschaft dysfunktional wird und immer schwieriger zu gewährleisten ist. Dabei argumentiert auch Mason bisweilen erschreckend geschichtslos. Er feiert Genossenschaften oder die Open-Source-Bewegung als Keimzellen der neuen Gesellschaft ab, aber verliert kaum ein Wort darüber, wie sich Nischenprojekte vor kapitalistischer Eingemeindung und dem Verlust transformatorischer Ansprüche schützen können. Immerhin gibt es eine 200-jährige Genossenschaftsgeschichte mit unzähligen Krisen und Brüchen. Ähnlich naiv ist auch Masons Haltung zur institutionellen Politik. Er plädiert - ganz im Sinne des »radikalen Reformismus« - für eine Förderung solidarischer Ökonomie durch Staat und Linksregierungen. Aber er sagt nichts dazu, dass praktisch alle Linksregierungen der vergangenen Jahrzehnte an ihren reformistischen Ansprüchen scheiterten und die Gesellschaften eher nach rechts als nach links verschoben haben.

Trotzdem liefert Mason ein wichtiges Argument für eine neue Postkapitalismus-Debatte. In Krisentheorie und Revolutionsgeschichte bewandert, reformuliert er nämlich das Zukunftsversprechen des Marxismus. Dieses beruhte maßgeblich auf einer Krisendiagnose: Da Unternehmen in der kapitalistischen Konkurrenz dazu gezwungen sind, ihre Produktionskosten durch Automatisierung zu drücken, beraube sich der Kapitalismus langfristig seiner Grundlage. Durch den Einsatz von Maschinen werden Güter nämlich billiger und der Anteil der wertschöpfenden Arbeit sinkt. Daraus folgert eine Tendenz fallender Profitraten. Der Kapitalismus schafft also eine Überflussgesellschaft, in der sich Kapital nicht mehr durch Arbeit vermehren lässt, und damit gleich zwei zentrale Voraussetzungen seiner Überwindung.

Das Problem an dieser These ist, dass sie sich im 20. Jahrhundert als falsch erwies. Mason erklärt allerdings auch sofort warum: Weil es dem Kapitalismus immer wieder gelang, neue Märkte und Bedürfnisse zu generieren. Auch wenn die Wertschöpfung im Arbeitsprozess tendenziell zurückgeht, wird »der Rückgang der Profitrate durch die Ausweitung der Produktion ausgeglichen, weshalb der Gesamtprofit steigt«.

Masons entscheidende These lautet nun, dass dieses Modell der Produktionsausweitung an seine Grenzen stößt: »Technologisch sind wir auf dem Weg zu kostenlosen Gütern, nichtmessbarer Arbeit, exponentiellen Produktivitätszuwächsen und der umfassenden Automatisierung physikalischer Prozesse.« Die Behauptung ist nicht neu und wird vom italienischen Philosophen Toni Negri schon seit Langem gebetsmühlenartig wiederholt: Wenn Güter in erster Linie von Maschinen hergestellt werden und nur noch wenige Menschen zur Kontrolle der Produktionsabläufe notwendig sind, dann ist auch nicht mehr die konkrete Arbeit der Kontrolleure wertschöpfend, sondern das gesamtgesellschaftliche Wissen: der »General intellect«, wie es bei Marx heißt.

Zog Negri daraus die Schlussfolgerung, dass die »Multitude«, die Menge der Vielen, zum kollektiven (Wissens-) Produzenten, zur diffusen Klasse und zum politischen Subjekt wird, so verweist Mason nun verstärkt darauf, dass Märkte in einer Informationsökonomie dysfunktional werden. Die Ökonomie der Zukunft werde auf »Netzwerken, Wissensarbeit, der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und hohen Investitionen in grüne Technologien beruhen«. Kooperation und freier Informationsfluss sind hier viel funktionalere Mechanismen als die privatwirtschaftliche Arbeitsorganisation.

Vielleicht kann der Antikapitalismus also doch noch beanspruchen, den Wind der Geschichte im Rücken zu haben: Es gibt technologische Entwicklungen, die gemeinwirtschaftlich-kooperative Strukturen nicht nur möglich, sondern fast schon notwendig machen. Die Frage ist allerdings, ob sich diese Kooperationspraktiken tatsächlich, wie Mason und andere behaupten, epidemisch ausbreiten: also ob Open-Source-Bewegung und Car-Sharing tatsächlich schon etwas mit Gesellschaftsalternativen zu tun haben. Schließlich haben auch die Menschen des 20. Jahrhunderts in Konsumgenossenschaften und Bildungsvereinen jenseits des Marktes miteinander kooperiert.

César Rendueles, der aus dem Umfeld der spanischen 15M-Bewegung kommt, widerspricht der These einer technologisch begründeten neuen Kooperationskultur ganz entschieden. Seiner Ansicht nach ähnelt die Begeisterung für die IT-Kommunikation der liberalen Marktgläubigkeit. In seinem Buch »Soziophobie« skizziert er zunächst, dass es sich beim Liberalismus keineswegs um eine naturwüchsige Ausdehnung ökonomischer Logiken in der Gesellschaft, sondern um ein utopisches Projekt gehandelt habe. Die Gesellschaft wurde anhand eines Plans radikal umgewälzt, nämlich von traditionellen - direkten, verbindlichen und somit »klebrigen« - Bindungen befreit. Anstelle der festen sozialen Beziehungen trat der bewegliche, flüchtige und anonymisierende Markt. Hinter dieser Freiheitsutopie stecke, so Rendueles, letztlich eine ziemlich morbide Gesellschaftsphobie.

In den neuen Cyber-Debatten drohe die Informationstechnologie nun die Funktion des Marktes zu übernehmen. Obwohl in der technikaffinen Linken viel von Kooperation die Rede ist, sehne man sich ganz ähnlich wie der Liberalismus nach Lösungen, die von einem äußeren, unverbindlichen Mechanismus geschaffen werden. Rendueles hingegen ist der Ansicht, dass Kooperation und menschliches Dasein überhaupt auf festen Bindungen beruht, und stellt damit eine feministische Perspektive in den Mittelpunkt seines Antikapitalismus: Ein von Kooperation geprägtes Gesellschaftsprojekt muss von der Care-Ethik, sprich: von Beziehungen der gegenseitigen Sorge ausgehen. Interessanterweise haben auch andere TheoretikerInnen aus dem Umfeld der 15M-Bewegung das als Schlussfolgerung aus den Platzbesetzungen 2011 gezogen. Sie sind sich darin einig, dass das Bahnbrechende des 15M nicht darin bestand, was auf den Plätzen gesagt wurde, sondern wie Menschen sich dort begegneten. In dem Klima anonymer Gleichheit habe es Raum für Empathie und Praktiken des Mit- und Füreinander gegeben. Nicht die Linkspartei Podemos, sondern diese Erfahrung sei das Wesentliche des Aufbruchs in Spanien.

Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden Perspektiven - das neue Vertrauen in flexible Informationstechnologien und das Beharren auf festen sozialen Bindungen - gegenseitig auszuschließen. Doch Manches ist den beiden Ansätzen auch gemein. Zum Beispiel dass sie Gesellschaftsalternativen nicht in erster Linie als Regierungsprojekte begreifen. Sie teilen die Ansicht, dass Kooperation als Grundlage des Postkapitalismus aus gesellschaftlichen Praktiken erwachsen muss. Für die einen stehen dabei Arbeitsprozesse, Kommunikation und technische Entwicklungen im Vordergrund, für andere die vermeintlich »reproduktive« Perspektive nämlich die Bindungs- und Care-Tätigkeiten. Beide erkennen trotz einer Staatskritik aber auch die Bedeutung institutioneller Politik an, durch die Rahmenbedingungen verbessert oder verschlechtert werden. Und beide Ansätze haben einen großen blinden Fleck, was Machtverhältnisse angeht: Wie soll eine Politik gesellschaftlicher Ermächtigung gegen die Interessen herrschender Eliten durchgesetzt werden? Was werden die Eigentümer von Produktionsanlagen machen, wenn sie wachsende Teile der globalen Unterklasse nicht mehr brauchen? Ein Teil wird, wie schon heute, als Service-Sklaven ein bescheidenes Dasein fristen; gegenüber den anderen jedoch könnten sich die Kapitaleliten und der »General intellect« der digitalen Produzenten durch immer undurchlässigere Grenzen weiter abschotten. Und ein ähnlicher Einwand lässt sich auch gegenüber dem ethisch begründeten Postkapitalismus à la Rendueles einwenden: Wieso sollten Konzerne, die von ihren Monopolen leben, die Ausbreitung von Gemeinwirtschafts- und Solidarpraktiken untätig beobachten?

Eine richtige, neue Postkapitalismus-Debatte haben wir noch nicht. Es fehlen die Bezüge aufeinander, und auffallend ist, dass Frauen auch in dieser Diskussion weniger Aufmerksamkeit erhalten als Männer. Aber immerhin scheint es eine wachsende Bereitschaft zu geben, jenseits linker Gewissheiten über Alternativen zu sprechen.

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