Pegasus ist kein Schlachtross

Der Friedensritt 2016 unterstützt den Widerstand gegen den Militärübungsplatz in der Colbitz-Letzlinger Heide

  • Hendrik Lasch, Gardelegen
  • Lesedauer: 7 Min.
Seit mehr als 30 Jahren ist der Friedensritt fester Bestandteil der deutschen Friedensbewegung. Dieser Tage hilft er in der Altmark beim Protest gegen ein Übungszentrum der Bundeswehr.

Pferde lieben reife Pflaumen. Besonders, wenn sie genau vor der Nase im Geäst hängen. Also wird kurz und beherzt zugeschnappt, bevor wieder jemand im Sattel sitzt. Zora, Snüdi & Co., die vierbeinigen Mitwirkenden beim Friedensritt 2016, dürften die Isenschnibbe wegen der Früchte in bester Erinnerung behalten.

Für ihre Reiterinnen aber ist es ein schwererer Gang. Dabei ist die Szenerie eigentlich idyllisch: in der Sonne wogende Kornfelder; Alleen, gesäumt von Obstbäumen. Dazwischen allerdings: ein Feld voll weißer Kreuze. Sie erinnern an 1016 Menschen, die vor 71 Jahren an dieser Stelle auf bestialische Weise ermordet wurden. Häftlinge aus Mittelbau-Dora und anderen KZ-Außenlagern, auf den Todesmarsch geschickt und vor den Toren Gardelegens in eine Feldscheune getrieben. Angehörige von SS, Wehrmacht und Volkssturm legten Feuer, warfen Handgranaten, feuerten MG-Salven. Fotos, die kurz darauf einrückende US-Soldaten aufnahmen und die in der Gedenkstätte zu sehen sind, zeigen grausam entstellte Leichen.

Ute Radermacher ist sichtlich bewegt. Die Friedensreiterin und Tierärztin hat gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen Sträuße aus Feldblumen an der Mauer abgelegt, die aus den Backsteinen der Feldscheune errichtet wurde. Nun steht sie inmitten des Meers aus weißen Kreuzen, von denen jedes für einen Toten steht. »Das geht nicht spurlos an uns vorbei«, sagt sie. Dennoch: Solche Ort der Erinnerung an Grauen und Opfer der NS-Zeit werden gezielt besucht, wenn sie an der Route der Friedensreiter liegen. »Wir wollen bewusst machen, dass Krieg und Verfolgung seit jeher unzählige Menschenleben kosten«, sagt Radermacher. »Ohne das Militär«, fügt Bernd Luge hinzu, »wäre die Tötung so vieler Menschen im Faschismus nicht möglich gewesen.«

Luge ist an diesem Tag so etwas wie der Gastgeber. Er ist Aktivist der »Offenen Heide«, einer Bürgerinitiative, die sich gegen die militärische Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide zur Wehr setzt. Das Areal erstreckt sich südlich von Gardelegen und der Gedenkstätte Isenschnibbe. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden dort in Magdeburg montierte Geschütze erprobt. Seither hat sich das Militär in dem landschaftlich äußerst reizvollen Gebiet festgesetzt. Nach 1989 schien eine friedliche Nutzung möglich; die Hoffnung zerstob aber. Heute trainieren in einem Gefechtsübungszentrum Soldaten der Bundeswehr und aus anderen Ländern für Einsätze im Ausland und in weltweiten Krisenherden. Die »Offene Heide« stellt sich dem unermüdlich entgegen. Einmal im Monat lädt sie zum Friedensweg ein; am ersten Sonntag im August findet bereits die 277. dieser Veranstaltungen statt.

Die Beharrlichkeit über mehr als 20 Jahre verdient um so mehr Respekt, als ein Erfolg nicht so recht in Sicht ist. Die Armee zieht nicht ab, vielmehr wird der Übungsplatz aufgerüstet. Auf dem Gelände entsteht die viele Millionen Euro teure Übungsstadt Schnöggersburg, in der auch die Bekämpfung von Aufständen trainiert werden könnte. Unmut in der Bevölkerung der Altmark gegen das militärische Treiben ist indes kaum vernehmbar; die Hoffnung auf Jobs und Steuergeld lässt den Rückhalt für das pazifistische Anliegen der »Offenen Heide« eher bescheiden ausfallen. Luge zieht beim Besuch der Friedensreiterinnen in der Gedenkstätte Isenschnibbe eine bedrückende historische Parallele. Während SS und Armee am 16. April 1945 in der Feldscheune gewütet hätten, seien Zivilisten in der Umgegend auf »Zebrajagd« gegangen, wie die Hatz auf flüchtige Häftlinge in zynischer Anspielung auf deren Kleidung hieß. Sie setzten eigenständig um, was das Regime vorgab. Von Akten zivilen Ungehorsams ist wenig überliefert. »Es war viel Mut nötig, um dennoch aufrecht zu gehen und sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen«, sagt Luge - und fügt an: »Solchen Mut braucht es auch heute.«

Der Mut wächst freilich, wenn man merkt, dass man nicht allein ist. Es ist diese Überzeugung, die dieser Tage die Friedensreiter in die Altmark geführt hat - zum dritten Mal nach 1994 und 2009. Neun Tage lang umrunden sie die Colbitz-Letzlinger Heide: auf - diesmal nur fünf - Pferden und auf Fahrrädern. Sie kampieren auf Sportplätzen und Bauernhöfen, sie besuchen Flüchtlingsunterkünfte und Seniorenheime; sie musizieren, spielen Straßentheater und beteiligen sich an den Aktionen des Camps »War starts here«. Das findet ebenfalls in dieser Woche in der Altmark statt und will bei Diskussionen, Vorträgen, Mahnwachen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen für friedliche Alternativen zum militärischen Trainingsbetrieb in der Heide werben. Abschließender Höhepunkt ist ein für diesen Samstag geplanter großer Aktionstag unter dem Motto »Wir stören!«, der nicht nur am, sondern auch im Militärgelände stattfinden soll. Man wolle »das Kriegsübungszentrum ... begehen und den kriegerischen Normalbetrieb anhalten«, heißt es im Aufruf. An einigen der Aktionen wollen sich auch die Friedensreiter beteiligen. Das Motto des Camps »Krieg.Macht.Flucht«, das auf den Zusammenhang zwischen militärischen Interventionen, einer erdrückenden Exportpolitik und weltweiten Migrationsbewegungen hinweisen will, haben sie auch für ihren diesjährigen Ritt adaptiert.

Mit Aktionen wie am Samstag haben die Friedensreiter viel Erfahrung - schließlich haben sie eine mehr als 30-jährige Tradition und sind tief in der (west-)deutschen Friedensbewegung verwurzelt. 1981 seien zur Gedenkveranstaltung »Blumen für Stukenbrock«, die an ein NS-Straflager für sowjetische Kriegsgefangene in Niedersachsen erinnert, Menschen auch mit Pferden und Kutschen gekommen, heißt es in ihrer Chronik. Es entstand die Idee, einen eigenen Friedensritt zu organisieren. Der fand dann im Jahr 1984 erstmals statt - in einer Zeit, die in Ost und West von heißen Debatten und großen Ängsten um die Aufstellung von Mittelstreckenraketen geprägt war. Der Friedensritt stellte sich der Aufrüstung entschieden entgegen: »Unsere Botschaft war und ist: Nie wieder Krieg«, sagt Ute Radermacher, die ein blaues T-Shirt mit dem prägnanten Signet der Friedensreiter trägt: einem Pegasus. Das geflügelte Pferd aus der griechischen Mythologie wird mit Dichtkunst und Weisheit in Verbindung gebracht; eines aber ist es sicher nicht: ein für die Zwecke von Militärs einzuspannendes Schlachtross.

Von den Gründern der Friedensritte sitzt im Sommer 2016 keiner im Sattel. Radermacher ist immerhin seit 1988 dabei, andere stießen erst nach Ende der DDR und deutscher Vereinigung dazu - und nicht immer zuvörderst, weil sie sich friedenspolitisch engagieren wollten. Eine Teilnehmerin erzählt, dass ihre Tochter zunächst nur nach Möglichkeiten für Wanderritte gesucht habe. Als sie dabei freilich auf den Friedensritt stieß, stimmte das mit ihren Überzeugungen so überein, dass sie mitmachte. Sie organisierte bald selbst Touren und steckte auch ihre Mutter an, die dem Pferd indes das »Stahlross« vorzieht - wie in diesem Sommer auch ihre mittlerweile zehn Jahre alte Enkelin. Andere kamen durch Freunde oder Kommilitonen zum Friedensritt. Entstanden ist inzwischen ein loses Netzwerk von Aktivisten, von denen manche im Wendland und im Berliner Umland wohnen, andere in Hessen oder an der Ostsee. Längst nicht jeder reitet jedes Jahr mit. Die meisten verbringen bei den Friedensritten ihren Urlaub, und nicht immer erlauben Termine oder familiäre Situation die Teilnahme. Auch Krankheit macht gelegentlich einen Strich durch die Rechnung - bei Mensch und Tier. Diese Woche erwischte es ausgerechnet den Organisator der laufenden Tour: Jörg Lauenroth-Mago, in der Altmark beheimateter und friedenspolitisch engagierter Gewerkschafter, musste seine Mitstreiter allein ziehen lassen.

Dass diese sich im Sommer 2016 wieder für Abrüstung und friedliche Konfliktlösung ins Zeug legen müssen, hätte man vor einem Vierteljahrhundert nicht mehr gedacht. Damals hatte der Friedensritt bereits eine Art Neuaufbruch hinter sich. Man sei der Überzeugung gewesen, mit Ende der Ost-West-Konfrontation sei auch die Aufrüstung Geschichte, sagt Radermacher: »Wir dachten, wir können uns anderen, wichtigeren Themen zuwenden.« Tatsächlich geht es inzwischen auch um Protest gegen Massentierhaltung, um Klimapolitik oder einen menschlichen Umgang mit Flüchtlingen. Einer der ersten Ritte in den 1990ern stand unter Überschriften wie »Mutter Erde statt Vaterland« und richtete sich gegen die Nutzung der Atomkraft. Ein zugkräftiges Thema: Wenn die Reiter nach Gorleben oder zur Asse aufbrachen, wurden sie teils von Hunderten begleitet.

In der Altmark ist die Resonanz bescheidener. Zur Isenschnibbe kamen außer den Reiterinnen nur ein paar Teilnehmer des Camps, dazu Aktivisten der Bürgerinitiative und andere politisch Engagierte aus der Region. Das Straßentheater auf dem Markt von Gardelegen, bei dem ein als Gevatter Tod verkleideter Reiter zu bedrückender Musik symbolisch Schuhe von Kriegsopfern aufs Pflaster stellt, beobachten immerhin auch Passanten - manche argwöhnisch, andere aber mit Sympathie. »Eine gute Sache«, heißt es hinter einem Ladentresen. Die verqueren Kommentare mancher Kunden, die auf Stühlen vorm Ladenfenster über das bunte Völkchen und dessen pazifistische Botschaft schimpfen, seien »die Vergangenheit«, sagt der Verkäufer. »Das da«, fügt er mit einer Kopfbewegung in Richtung der Friedensaktivisten hinzu, »das ist die Zukunft«.

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