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Babelsbergs traumatischer Pokalsieg

Fanvertreter fordern weitere Aufklärung zu Polizeieinsatz in Luckenwalde / Grüne- und LINKE-Abgeordnete für Beschwerdestelle

  • Katja Herzberg
  • Lesedauer: 8 Min.

»Ich erinnere mich an nichts Positives.« Oliver Lange ist noch heute fassungslos, wenn er an den 28. Mai zurückdenkt. Der SV Babelsberg 03 erreichte den größten Erfolg in der jüngeren Vereinsgeschichte, das Fußballteam gewann gegen den FSV 63 Luckenwalde (3:1) im Brandenburger Landespokal. Mit dem Abpfiff begann jedoch keine ausgelassene Feier, es kam es zur Eskalation. »Es sollte einfach ein schöner Tag werden, doch er wurde uns durch diesen Polizeieinsatz zunichte gemacht«, sagt der 43-Jährige mit Zorn in der Stimme. »Ich wollte helfen und wurde dafür geschlagen.«

Oliver Lange ist einer von Dutzenden Babelsberg-Fans, die nach jenem Spiel die volle Härte polizeilichen Handelns zu spüren bekamen (»nd« berichtete). Statt mit ihren Spielern zu jubeln, waren sie mit einer Polizeikette konfrontiert. Nach Zählung des sozialpädagogischen Fanprojekts Babelsberg wurden 155 Zuschauer durch Pfefferspray, Schläge und Tritte von Polizeibeamten verletzt, davon 27 schwer. Eine Bilanz, die im brandenburgischen Fußball der letzten Jahre ihresgleichen sucht – und der die Polizei bis heute widerspricht. Sie zählte laut Saisonabschlussstatistik nur 22 Verletzte, darunter mehrere Beamte. Die Diskrepanz ist schwer zu verstehen – auch angesichts eines nun von Anhängern des SV Babelsberg 03 (SVB) veröffentlichten Videos. Es zeigt, wie Einzelne verletzt werden, aber auch, dass eine größere Menschenmenge vom Eingreifen der Beamten betroffen war.

Während die Behörden den Einsatz scheinbar längst abgehakt haben, geben die Fans keine Ruhe. »Wir warten bis heute auf die umfassende Aufarbeitung der Vorkommnisse«, erklärt Max Hennig, Mitglied im Fanbeirat des SVB. In den bisherigen Stellungnahmen von Polizei und brandenburgischem Innenministerium sieht er falsche Zahlen und Unwahrheiten. Deshalb habe das aus der Fanszene gewählte Gremium zusammen mit der Antirepressionsinitiative »nur03*« ein Dossier zu den Ereignissen erstellt. Mit dem Videozusammenschnitt wurde das Dokument am Montag veröffentlicht und ruft teils heftige Reaktionen hervor.

Es habe viel Kraft gekostet, das Material zu ordnen, so Hannes Ulk von »nur03*«. »Viele von uns waren selbst Betroffene. Deshalb ist es uns nicht leicht gefallen, das Erlebte durch die Geschichten der Betroffenen und Augenzeugen immer wieder neu durchzumachen.« Neben einer Chronologie der Ereignisse, einer Presseschau und einem Forderungskatalog enthält das Dossier Fotos von jenem Nachmittag.

Auf einem Bild ist auch Oliver Lange zu sehen, wie er einem bewusstlos am Boden liegenden Fan zu helfen versucht. »Ich habe nur gesehen, dass mein Freund stark blutet. Er wurde von zwei Beamten weggeschleift und auf dem Rücken liegen gelassen. Er bewegte sich nicht mehr. Instinktiv wollte ich ihm helfen und warf mich auf ihn, wollte ihn in stabile Seitenlage bringen. Beim ersten Versuch wurde ich von einem Beamten ins Gesicht geschlagen. Dabei grinste mich er noch an«, schildert Lange sein Eingreifen. Wenig später war es ihm dann gelungen, sich um den jungen Mann zu kümmern und ihn ins Krankenhaus transportieren zu lassen. Wie sich herausstellte, stammte das Blut von einer tiefen Wunde an der Hand, die mit 20 Stichen genäht werden musste. Polizisten, das geht aus dem Video hervor, hatten den jungen Mann daran gehindert, über den Zaun zurück in den Gästeblock zu klettern.

Lange, Inhaber eines Handwerksunternehmens, besuchte das Spiel zusammen mit seinem Sohn. Heute ist er vor allem froh, dass dieser keine Verletzungen davongetragen hat. Um die Geschehnisse zu verarbeiten, schrieb Lange einen offenen Brief. Eine Antwort von den Behörden ist bisher jedoch ausgeblieben. Das dürfe nicht so bleiben. »Ich erwarte, dass die Polizei endlich tätig wird und für ihre Fehler geradesteht, so wie es in jeder Firma gemacht wird, wenn etwas schief geht.« Eine Entschuldigung reiche nicht aus. »Der Einsatz muss Konsequenzen haben«, sagt Lange.

Diese Forderung erheben auch der Fanbeirat und das Netzwerk »nur03*«. Das Fanprojekt Babelsberg unterstützt sie dabei. »Unserem Wunsch nach einer gemeinsamen Aufarbeitung der Vorfälle sowie der Entwicklung eines Kooperationspapiers wurde bisher leider nicht entsprochen«, erklärt Bastian Schlinck auf nd-Anfrage. Zwei Sozialarbeiter waren in Luckenwalde im Dienst, einer wurde selbst Opfer von Polizeigewalt. In dem nun veröffentlichten Video ist zu sehen, wie ein Mann in hellblauer Jacke mit der Aufschrift »Fanprojekt Babelsberg« auf dem Rücken von hinten von einem Polizisten umgerannt und geschlagen wird. Gegenüber »nd« bestätigt Schlinck nun, dass der Betroffene Anzeige erstattet hat. Zum Stand des Verfahrens könne er keine weiteren Angaben machen.

Das Fanprojekt hat zusammen mit dem Fanbeirat sofort nach den Ereignissen zahlreiche Gespräche mit Augenzeugen und Betroffenen geführt. Daraus hat sich unter anderem die Zahl der Verletzten von 155 ergeben. Seither habe sich diese nicht verändert. »Allerdings gehen wir davon aus, dass die Dunkelziffer durchaus höher liegen dürfte und sich insbesondere Fälle von Traumatisierung teilweise erst mit zeitlicher Distanz zum Geschehen auswirken werden«, so Schlinck.

Die Spätfolgen jener Ereignisse bereiten auch Michael Gabriel von der Koordinierungsstelle Fanprojekte (KOS) Sorge. »Der Tag ist für viele Fans sicherlich ein einschneidendes Erlebnis, weil sie die Polizei als sehr konfrontativ erlebt haben«, sagt Gabriel gegenüber »nd«. Dazu komme nun die Erfahrung, dass der Wille zur Aufarbeitung und Fehlverhalten einzuräumen, kaum vorhanden sei. Im konkreten Fall geht Gabriel davon aus, dass aufgrund von Fehleinschätzungen die falschen Maßnahmen ergriffen worden sind. Denn: »In der Ansetzung war kein Risikopotenzial zu erkennen.« Die Fanszene von Babelsberg sei nicht dafür bekannt, gewalttätig zu sein. Für den Verein hatte das Spiel um den Einzug in den DFB-Pokal eine hohe sportliche Bedeutung. Auch am Spielverlauf zeichnete sich kein Grund zur Eskalation ab. »Die Babelsberg-Fans wollten einfach feiern«, so Gabriel.

Er warnt davor, derlei Geschehnisse nicht aufzuarbeiten. »Das Misstrauen gegenüber der Polizei, das durch solche Erfahrungen entsteht, ist weit über den Fußball hinaus von Bedeutung.« Der Fall Babelsberg reiht sich für die vom DFB und Bundesfamilienministerium geförderte KOS in eine insgesamt negative Entwicklung ein. »Wir befürchten, dass sich der Konflikt zwischen Polizei und Fußballfans verschärft und die Konfrontationen mehr werden. Deshalb braucht es eine transparente Fehlerkultur – unter den Fans, aber auch bei Polizei und Behörden«, so Gabriel.

Um Vertrauen wieder aufzubauen, fordern Fans, Sozialarbeiter sowie Juristen seit langem etwa eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte im Dienst. Als erstes Bundesland überhaupt hat Brandenburg eine solche Kennzeichnungspflicht gesetzlich geregelt. Offenbar beweist jedoch ausgerechnet der Fall des Pokalfinals Luckenwalde, dass sie nicht konsequent umgesetzt wird. Die Babelsberger Fanvertreter beklagen in ihrem Dossier, dass »mindestens zwei, wenn nicht sogar drei, Polizisten« ungekennzeichnet gewesen seien. Im Video ist zu sehen, wie ein Beamter ohne Rückennummer einer Person mit seinem Schlagstock einen Hieb auf den Kopf verpasst. Diese Aktion sei in mehrfacher Hinsicht aufarbeitungswürdig, meint Alexander Bosch, Polizeireferent von Amnesty International. Nur Arme und Beine dürften mit dem Schlagstock getroffen werden. Treffer am Kopf bergen die Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen. »Das wäre eine Menschenrechtsverletzung und ist deshalb auch verboten«, so Bosch.

Die Polizeidirektion West (PD West) bestätigte auf Nachfrage, dass Verfahren sowohl gegen Polizeibeamte als auch Personen aus den Fanlagern von Babelsberg und Luckenwalde laufen. Nähere Angaben zu Art und Schwere der Vorwürfe konnte die PD West nicht machen. Sie bestätigte jedoch, dass zwei Beamte nicht wie vorgeschrieben eine Individualnummer trugen. Sie seien anhand ihrer Helmkennzeichnung identifiziert worden. »Die beiden Beamten sind also namentlich bekannt und deren Dienststelle darüber informiert«, so Pressesprecher Heiko Schmidt. Welche Konsequenzen die Verstöße nach sich ziehen, dazu traf die Polizeidirektion keine Aussage. Zum Vorwurf mangelnder Auseinandersetzung mit den Geschehnissen erklärt die Behörde: »Die Aufarbeitung hat stattgefunden. Für die PD West ist sie abgeschlossen.«

Den Fanvertretern reicht das nicht aus. Sie fordern die Einrichtung einer »externen Vertrauensstelle für Beschwerden gegen polizeiliches Handeln«. Sie sollte mit umfassenden Befugnissen zur Aufarbeitung von Polizeigewalt ausgestattet sein. Neu ist diese Idee nicht, sie war schon öfter Teil politischer Auseinandersetzungen zu Polizeiarbeit und -gewalt – auch im Brandenburgischen Landtag. So ist der Fall Luckenwalde für die Grünen-Abgeordnete Ursula Nonnemacher ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit einer Polizeibeschwerdestelle, wie sie gegenüber »nd« erklärt. Der Antrag ihrer Fraktion dazu wurde jedoch im vergangenen Jahr von der Parlamentsmehrheit abgelehnt. Die LINKE-Politikerin Isabelle Vandre, ebenfalls Mitglied des Landtages, sieht nun jedoch Handlungsbedarf. »Wir müssen dringend über den Vorschlag der Einrichtung einer unabhängigen Polizeibeschwerde diskutieren«, sagt sie dem »nd«.

Gut möglich also, dass das Pokalfinale zumindest indirekt noch ein Nachspiel in der Landespolitik haben wird. Vor der Sommerpause hatte der Innenausschuss lediglich in zwei Sitzungen ergebnislos über die Vorfälle debattiert. Für Vandre ist klar, dass die Aufarbeitung fortgesetzt werden muss. »Die bisherigen Darstellungen des Innenministeriums sind in Anbetracht des nun vorliegenden Dossiers unzulänglich. Ich erwarte, dass, so wie auch durch das Innenministerium zugesichert, die Aufarbeitung des Pokalfinals weiter geführt wird.«

Das Thema Luckenwalde ist in Babelsberg und Potsdam – aber auch unter Fußballfans in ganz Deutschland, die in sozialen Netzwerken hundertfach die jüngsten Veröffentlichungen weiterverbreiteten – in jedem Fall weiter Thema. Nicht zuletzt weil es schon bald wieder zu einer Partie zwischen dem FSV 63 Luckenwalde und dem SV Babelsberg 03 geben wird: Am Mittwoch ergab die Auslosung der nächsten Runde im Landespokal das erneute Aufeinandertreffen der Vereine am 8. Oktober – diesmal mit Heimrecht für Babelsberg. Polizei und Fußballlandesverband haben die ersten Sicherheitsvorbesprechungen bereits terminiert.

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