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Ein Genie, Gott und die Welt

Vor 300 Jahren starb Gottfried Wilhelm Leibniz

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 6 Min.

Den ganz großen Geistern wie Gottfried Wilhelm Leibniz, ist mit unserem Verstand als zwar interessierte, aber auf den jeweiligen Kosmos nicht spezialisierte Leser schwer beizukommen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiten Generationen von Experten an der historisch-kritischen Aufarbeitung seines gewaltigen Nachlasses. Dennoch ist bisher erst etwa die Hälfte der Schriften, Notizen und Briefe ediert worden. Den sympathischsten Zugang zum Schaffen dieses Genius vermittelt uns immer noch die Korrespondenz. Pünktlich zum 300. Todestag von Leibniz ist der 24. Band des Allgemeinen politischen und historischen Briefwechsels erschienen. Er umfasst nur zehn Monate, vom Oktober 1704 bis Juli 1705. Es ist die Zeit des dritten Nordischen Krieges und des Spanischen Erbfolgekrieges, die das mitteleuropäische Kleinstaatenpuzzle erschüttern - und der Einschränkung der wissenschaftlichen und organisatorischen Aktivitäten des »aufgeklärten Christen« (Ludwig Marcuse).

Leibniz ist Geheimer Justizrat des Kurfürsten Georg Ludwig in Hannover. Er soll ihn in staatsrechtlichen Angelegenheiten beraten sowie die Geschichte des Welfenhauses nach Quellen erforschen und schreiben. Aber das Erscheinen des opus magnum verzögert sich; für den Dienstherrn bleibt die Arbeit der »Geschichtswerkstatt« unsichtbar. Schlimmer noch: Der »mit gnaden beygethane« Gelehrte lässt sich über ein halbes Jahr in Hannover nicht blicken. Allzu gern hält sich Leibniz bei Königin Sophie Charlotte in Lietzenburg, dem späteren Charlottenburg, auf. Sophie Charlotte war die Schwester Georg Ludwigs, und bei ihr beklagt sich der Kurfürst, keinen erkennbaren Nutzen aus den Fertigkeiten des Geheimen Rats ziehen zu können. So muss der reiselustige Forscher zur Kenntnis nehmen, dass er »ohn Unser Vorwissen und Bewilligung dergleichen Reisen, wie bisher geschehen, nicht weiter vorzunehmen« habe. Die Freiheit der Wissenschaft war zu keiner Zeit ein selbstlos gewährtes Privileg.

Leibniz reagiert verärgert. Er möchte selbstgestellten Aufgaben nachgehen, um »Gedanken und Entdeckungen in den Wissenschaften voranzutreiben, von denen man bisher nur Proben gesehen hat und welche die Gelehrten aller Gebiete von mir fordern«. Er fühlt sich unverstanden und schaut sich um, ob er in anderen Dienstverhältnissen seine Pläne verwirklichen kann. Etliche unter Vorwand geheim gehaltene Reisen dienen diesem Zweck.

Berlin und Lietzenburg sind Lichtblicke in Leibniz› Leben. Er zählte diese Aufenthalte zu den glücklichsten seines Lebens. Nach vielen Verhandlungen hatte er die Gründung einer Sozietät der Wissenschaften bewirken können. Entschiedenste Befürworterin war die Kurfürstin Sophie Charlotte, die sich schon 1699 als seine Schülerin bezeichnet hatte. Den philosophischen Gesprächen mit der nunmehrigen Königin hat Leibniz auch in späteren Jahren einen hohen Stellenwert zugesprochen. Sie fanden u.a. ihren Niederschlag in den »Nouveaus essais« (»Abhandlungen über den menschlichen Verstand«).

Die Tätigkeit am Berliner Hof weitete sich zunehmend aus. Vor allem sind es juristisch-politische Gutachten, beispielsweise zu den Ansprüchen Friedrichs I. auf Neuchâtel, einem Territorium in der französischsprachigen Schweiz, die den König veranlassen, die ansehnliche Summe von 1000 Talern zu gewähren. Leibniz erwägt, in den Dienst Brandenburg-Preußens zu treten. Doch am 1. Februar 1705 stirbt die Königin. Bis zum Ende des Briefbandes spiegelt sich die Trauer um die kluge Mäzenin. Letztlich hat ihr Tod, aber auch die Abneigung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des späteren »Soldatenkönigs«, gegen ihn Leibniz bewogen, nicht nach Berlin umzuziehen.

Auch die Bemühungen, in Sachsen Fuß zu fassen, scheitern. Während eines vierwöchigen Aufenthalts am Dresdner Hof zeigt sich August II., der »Starke«, zwar geneigt, dem Anliegen stattzugeben, obwohl Leibniz darauf besteht, die »jezigen engagemens« beizubehalten. Aber als es konkret wurde, zerschlägt sich seine Hoffnung, auch dort eine Akademie gründen zu können. Also stürzt er sich wieder in die Obliegenheiten des hannoverschen Hofes. Sie sind mit Aussichten auf den englischen Thron verbunden. Politik war seinerzeit zu einem Gutteil Heiratspolitik und Erbfolge. Nachrichten aus dem britischen Königreich interessierten Leibniz und und seine hannoversche Mäzenin Kurfürstin Sophie, die Mutter Sophie Charlottes, brennend, weniger weil sich auf der Insel Parteien als Gesinnungs- und Interessengemeinschaften und ein Parlamentarismus zu entwickeln begannen, was den kontinentalen Herrschern sehr befremdlich erschien, sondern vielmehr weil die britische Thronfolge zur Disposition steht.

Aus dem Briefwechsel erfahren wir, wie es zu der sonderbaren Personalunion des hannoverschen Kurfürstentums, späteren Königreiches, mit Britannien kommt. In London bleiben sowohl Wilhelm III. von Oranien als auch Königin Anna, die beiden letzten Potentaten der Stuarts, ohne Nachkommen. Zudem hatte das Parlament 1701 bekräftigt, dass künftig ein katholischer Herrscher auszuschließen sei. Auf Hannover richtete sich die Aufmerksamkeit, weil dort mit Kurfürstin Sophie eine protestantische Enkelin der Stuarts residierte. Sie starb kurz vor der Inthronisierung, und dadurch wurde ihr Sohn Georg Ludwig, Leibniz‹ Dienstherr, der nächste rechtmäßige Thronerbe. Allerdings gab es in England eine Opposition dagegen. Im Jahre 1714 ist Georg Ludwig tatsächlich als Georg I. englischer König geworden.

Leibniz und dahinter Kurfürstin Sophie loteten aus, wie der hannoverschen Thronfolge günstige Tendenzen gestärkt werden können. Es kam darauf an, die öffentliche Meinung im »Land der Pressefehden« zu beeinflussen. Leibniz hat sich ja des öfteren, nicht immer glücklich, verdeckt in diplomatischer Mission versucht, sei es im Verhältnis zu Brandenburg-Preußen, zu Brandenburg-Ansbach oder im Hinblick auf die »Große Allianz« im Spanischen Erbfolgekrieg gegen die Vormacht Frankreichs und des Katholizismus in Europa.

Leibniz kann nicht gewürdigt werden, ohne auf sein Theorem einzugehen, dass die bestehende Welt die beste aller möglichen Welten sei. Über diesen Gedanke streiten sich bis heute Philosophen und Theologen auf speziellen Kolloquien. Voltaire hat ihn in seinem Roman »Candide« mit beißendem Spott überzogen. Man kann den provozierenden Satz nur verstehen, wenn eine im 17. und 18. Jahrhundert allgemein verinnerlichte Annahme akzeptiert wird: Dass Gott die Welt erschaffen hat und dass die Prinzipien menschlichen Denkens auch für ihn gelten. Da Gott vollkommen ist, also auch sein Denken und Handeln, kann er nur das Beste bewirkt haben. Was die Menschen daraus machen, steht auf einem anderen Blatt.

Diese Aussage korreliert mit der Deutung des Religionskritikers Ludwig Feuerbach, der die Sache umkehrt: Nicht Gott hat die Welt und die Menschen geschaffen, sondern der Mensch Gott, indem er seine besten Eigenschaften und Hoffnungen auf eine Idealgestalt überträgt. Die demzufolge nur Gutes verkörpert. »Als Beschreibung eines Zustandes kann es (das sogenannte Theodizee-Problem) auch zu Leibniz› Zeiten nicht gemeint gewesen sein, dafür waren die Übel viel zu offensichtlich«, schlussfolgert der Leibniz-Editor Reinhard Finster. Leibniz beschönigt nicht den Ist-Zustand; er fordert mit seinem Axiom auf, diesen göttlichen Zustand anzustreben und zu bewahren. Sein Optimismus, dass dies möglich sei, resultiert aus dem (freilich spekulativen) Programm der Vernunft und Rationalität des Bestehenden, wie es auch Hegel zu begründen versuchte, im christlichen Sinn: aus der Unantastbarkeit der Schöpfung.

Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe. Reihe I, 24. Band, Oktober 1704 - Juli 1705, Akademie Verlag Berlin, 41 S.; als PDF im Internet abrufbar unter www.leibnizedition.de

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