... und Breshnew grüßte

Fritz Pleitgen zu Gast in Gregor Gysis Gesprächsreihe im Deutschen Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Fritz? Mit diesem Namen nach Moskau? Pleitgens einstige Russisch-Lehrerin riet, als er ARD-Korrespondent in der Sowjetunion wurde, zu einem unbedingten »Friedrich«. Denn Fritz gelte als »Inkarnation des bösen Deutschen«. Der Feindschafts-Stempel. Das Hass-Erbe. Pleitgen aber blieb Fritz, und er wurde einer der legendärsten deutschen Reporter im Kaiserreich der KPdSU. Offenbarte Neugier, aber zeigte, wenn diese an Ketten der Zensur gelegt wurde, niemals Nerven. Blieb rastlos gelassen. Stimmte strengste Bewacher milde - mit »Sa Uralom« (»Hinterm Ural«), dem 93-prozentigen Wodka. Der deutsche Journalist sprach zufällig auf einem sibirischen Flugplatz mit Breschnew, wurde daraufhin öfters vom Kremlchef gegrüßt - weil Pleitgen in Journalistenpulks stets der körperlich Herausragende war. Er verkörperte gleichsam - Vertrauen. Kam so vielen inneren Kreisen nah. Wirklich: herausragend.

1973, vor Breschnews Besuch in Bonn, stellten die Russen ihrem Fernseh-Fritzen sogar binnen 45 Minuten eine Sondermaschine zur Verfügung, damit das exklusive Filmmaterial rechtzeitig vor der Staatsvisite in der Bundesrepublik sein konnte. »Ein gigantisches Flugzeug landete in Bonn und heraus purzelte ein einziger Passagier, ein Mann mit einem Filmbeutel. Das war ich. Solch praktische Willkür der Dienstleistung funktioniert nur in einer Diktatur.«

Der Duisburger vom Jahrgang 1938, Sohn eines Krupp-Technikers, war am Sonntag Gast in Gregor Gysis Biographien-Talk im Deutschen Theater Berlin. Ein Lebensweg von der Bielefelder »Freien Presse« zum WDR (»ich sah mich in der Nähe Kischs, berichtete aber vom Wochenmarkt in Bünde«). Beim größten Sender des ARD-Verbunds reüssierte er als Korrespondent, nicht nur in Moskau, auch in Ost-Berlin, in Washington. Später wurde er, für zwölf Jahre, WDR-Intendant und dann ARD-Vorsitzender. Auf Gysis Sonntagsbühne: ein Mann in Anzug - und Turnschuhen. Das Sportive als Lebenshaltung? Du siehst diesen Bedeutenden seiner Zunft und nimmst sofort etwas wahr von den Wirkungen wirklicher Meinungs- und Bewegungsfreiheit auf ein Gebaren. Es gibt (journalistische) Leben, in die einzudringen der pädagogische Eifer und die ideologische Angestrengtheit nie eine Chance hatten. Pleitgen: der Sonore, der Clevere. Zudem der Ironiker, der Buster Keatons steinernes Gesicht zu beleihen scheint, wenn er witzig wird. Er wird oft witzig.

Aber erzählt auch von Brandbomben, Fluchtwegen nach Schlesien und Vertreibung zurück. Erzählt von der 15-jährigen Schwester, die der kranken Mutter - die Familie hatte vier Kinder - wie eine zweite Hüterin beisprang. Spricht über die wunderbaren Briefe, die seine Mutter schrieb: »Was hätte aus dieser begabten Frau werden können, wenn sie Bildung erfahren hätte.« Verweis auf das große Elend: diese Abhängigkeit aller Lebensverläufe vom Schicksalswürfel, von Ort, Zeit, geschichtlicher Gnade. Oder eben Gnadenlosigkeit. Fritz durfte damals nicht mit einem Freund spielen, weil er im Bett bleiben musste: Energie sparen, gegen den schmerzenden Hunger. Der abgewiesene Freund ist der Sohn einer Ausgestoßenen im Ort: Sie hatte ein Verhältnis mit einem Besatzungssoldaten - auch nach dem Krieg hält sich »deutsche« Leitkultur. Und dann bringt jener Freund, der mit Fritz nicht spielen darf, ein Drei-Pfund-Brot. Damit sich der Junge erholt. Die Gebrandmarkte, die selber nichts hat - sie hilft. Solche Geschichten erzählt Pleitgen. Erzählt sie ohne Kommentar. Und überzeugt also.

Was sich in Frage und Antwort entwickelt, ist das Porträt eines glückhaften Lebens. »Ich habe mich nie irgendwo bewerben müssen.« Einer, dem die Gelegenheiten zur Leistung oft zufielen. Er nahm sie wach entgegen, nutzte sie. Wird ein Reporter, dem sich weltweit das höchste Protokoll öffnet. Aber im Gespräch mit Gysi fallen oft Worte, die auf Wichtigeres unterhalb des Offiziellen zielen: Zuneigung, Wärme. Ein Berichterstatter aus dem Alltag, in der Sowjetunion und auch in der DDR, als »die SED die Schraube noch mal anzog«. Also ließ er die vermeintlich großen politischen Themen fallen, drehte Filme über regionales Leben. Staat und Genossen? Nein: Land und Leute. Von Rügen bis zum Rennsteig. Konnte Journalismus politischer sein? Bildliche Belege für eine gewichtige Wahrheit: Wo man von »einfachen« Menschen spricht, ist man mitten in den kompliziertesten Verhältnissen. »Ich kam als Wessi nach Ostberlin, keine Ahnung, wenig Interesse - ich wurde in der DDR zum Gesamtdeutschen.« Er ist SPD-Mitglied: »Wegen Willy Brandts Ostpolitik. Aber bei der Arbeit hat mir das eher geschadet - da jede Kritik an der Partei nur als vorgetäuscht galt und jedes Wohlwollen als Propaganda gewertet wurde. Ein Journalist sollte unabhängig sein.«

Berührend, wie er von Andrei Sacharow erzählt, ein »so leiser, scheuer, zögernd agierender Mensch, und doch zitterte das Regime«. Und Lew Kopelew, der Freund des Deutschen! Glühender Jungleninist. Unter Stalin steigerte er die Ergebenheitspose - Angst und Treue, eine der bittersten Paarungen. Instrukteur für Aufklärungsarbeit im deutschen Feindesheer, entsetzte sich über Gräueltaten eigener Leute, wurde wegen »Mitleid mit dem Feind« angeklagt. Wandlung zum Dissidenten, beseelt von Frieden, Versöhnung. Großer Hoffnungsgeist für Verfolgte im Osten, die europäisch dachten. Pleitgen: »Er ging den Weg einer Selbsterkenntnis, die keine Rücksicht auf jenen Schmerz nimmt, den große Irrtümer auslösen.«

Pleitgen erzählt souverän. Ein Mann der Story. Lässt bei jeder Geschichte, die er zum Besten gibt, die Ahnung mitschwingen, es gebe noch zehn andere. Bleibt aber bei dieser einen Geschichte. Das ist: Ökonomie eines Charakters, Platzierungskunst der Intelligenz. Das ist Spannungsbogenkunst. Er hat einmal gesagt, er träume von einer »funktionierenden multikulturellen Gesellschaft«, er verehre Prometheus für dessen Feuergabe an uns, besonders gern singe er »I Walk the Line« von Johnny Cash, und wenn es denn doch zu einer Henkersmahlzeit kommen müsse, dann unbedingt eine russische Suppe: Borschtsch. Das alles hat ihn Gregor Gysi nicht gefragt, aber vielleicht fragen wollen. Er wälzte seine Karteikarten bei ablaufender Uhr mehr und mehr wie ein unglücklicher Skatspieler, den man eine Mau-Mau-Karte untergejubelt hatte: So viele Fragen, so wenig Zeit.

Immer wieder: die Sowjetunion - eine Schule der Einsicht. Und Vorsicht. »Es ging mir in meinen Filmen darum, das Land nicht an der Elle unserer Vorurteile zu messen und Gesprächspartnern Sicherheit zu geben, dass man sie nicht in die Pfanne haut.« Entdämonisierung. Heute wichtiger denn je. »Einige tun ja schon wieder so, als stünden die Russen vor der Tür. Dabei ist es der Westen, der über die Ukraine auch noch wirtschaftlich an die russische Grenze heranrückt.« Da soll Putin ungerührt bleiben? Pleitgen nennt Europa einen »Kontinent der schlechten Erfahrungen«, da müssten alle Interessen ernst genommen werden. »Deshalb sind mir Klartextler unheimlich«, Leute auf jeder Seite, die alles schnell und gesinnungsöde auf den Begriff bringen. Die immer gleich eine Flagge hissen. Die nichts wissen von Selbstwiderlegung.

1991 drehte er einen Film über die Stadt Perm, besuchte eine heruntergekommene Klinik für krebskranke Kinder. Aus Erschütterung wuchsen Spenden, aus Spenden wurden deutsch-russische Logistik und Leistung - eine neue Klinik entstand. Wo neun von zehn Kindern starben, wird heute acht von zehn Kindern das Leben gerettet. Humanismus konkret. Pleitgens Hoffnung: »dass die Zivilgesellschaft stets stärker ist als die politischen Großverhältnisse«. Beifall. Buster Keaton kann lächeln.

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