Angst um Schnuckiputz

Der Rummel als Ort des Flirtens? Das war einmal, doch die Branche hat viel größere Sorgen

  • Jonas-Erik Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die deutsche Kirmes ist ein Hort der Beständigkeit. Grellbunte Karusselle, 1990er-Jahre-Techno am Autoscooter, der Geruch von brutzelnden Nackensteaks - das grundsätzliche Arrangement auf Rummelplätzen hat sich seit vielen Jahren so gut wie nicht verändert. Für die Welt drumherum gilt das leider nicht ganz, wie erst jetzt wieder der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt gezeigt hat. Und nicht nur die neue Sicherheitsdebatte ist geeignet, am Wesenskern deutscher Kirmes-Gemütlichkeit zu rütteln. Kostendruck, das Sterben kleinerer Volksfeste, die Digitalisierung - all das einfach zu ignorieren, ist wohl keine Option.

»Die Käseglocke wird nicht der Weg sein«, sagt Frank Hakelberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Schaustellerbundes (DSB). Für die Branche, die sich von Donnerstag an für drei Tage in Bonn trifft, gibt es jedenfalls mehr als genug Gesprächsstoff. Der DSB erwartet rund 1300 Gäste. Es sei »das größte Schaustellerjahrestreffen weltweit«.

Hakelberg weiß, dass vor allem der Anschlag in Berlin mit zwölf Toten und vielen Schwerverletzten nachwirkt. »Überall werden Sicherheitskonzepte überdacht«, sagt er. Er rechnet fest damit, dass es in der neuen Volksfest-Saison mehr Betonpoller geben wird. Berlin werde sicherlich so schnell nicht vergessen.

Um die Stimmung und den Zulauf auf den Volksfesten sorgt sich Hakelberg gleichwohl nicht. Nach dem Anschlag hat er sich bei den Schaustellern umgehört. »Sie haben von vielen Gesprächen mit ihren Gästen berichtet, bei denen die Leute den Glühwein in der Hand hatten und sagten: Jetzt erst recht.« Er glaubt, dass sich der Gedanke durchsetzt, sich den Spaß nicht nehmen zu lassen. Was der Branche aktuell mehr Sorgen macht ist, dass Kommunen auf die Idee kommen könnten, die neuen Kosten für Sicherheit - etwa für Zäune oder Poller - auf das Standgeld umzulegen, das die Schausteller zahlen. Es gehe in der aktuellen Debatte ja nicht um eine Gefahr, die aus einer Kirmes heraus entstehe, argumentiert Hakelberg. Die komme von außen. Aus seiner Sicht ist das daher eine hoheitliche Aufgabe.

Dass es auch abgesehen von der Sicherheit einen gewissen Veränderungsdruck gibt, hat vor einigen Jahren eine Studie des Spitzenverbandes gezeigt. Sie kam 2012 zu dem Schluss, dass in den Jahren seit der Jahrtausendwende fast jedes vierte Volksfest von der Bildfläche verschwunden ist - vor allem die kleinen.

Die Entwicklung hängt auch damit zusammen, wie Menschen heute ihre Freizeit verbringen wollen - und können. Früher stand noch alles Kopf, wenn die Kirmes ins Dorf kam. Wer sich verlieben wollte, versuchte es als erstes auf einem Volksfest. Spätestens seit dem Siegeszug des Internets ist das natürlich ganz anders. »Sie brauchen zum Verknallen nicht mehr am Autoscooter stehen«, weiß auch Funktionär Hakelberg.

Und es gibt weitere Konkurrenz. Ein Flug nach Mallorca kostet heute mitunter weniger als ein durchschnittlicher Kirmes-Gang mit den Kindern am Samstagmittag. Wer über deutsche Rummelplätze bummelt, könnte dennoch meinen, dass die Zeit still steht. Fahrgeschäfte sind in greller 1980er-Jahre-Optik bemalt, manche Motive würden in anderen Zusammenhängen wohl eine Gender-Debatte verursachen. Fleisch, Fett und Zucker dominieren meist noch das Snackangebot. Paare, die sich in der Öffentlichkeit bloß nicht mit Kosenamen anreden wollen, tragen plötzlich stolz Herzen mit der Aufschrift »Schnuckiputz« vor dem Bauch.

Doch eine Kirmes kann sich nur in kleinen Schritten modernisieren. Natürlich gebe es auf den Festen heute schon mal Falafel oder Gemüsepfännchen, sagt die Volkskundlerin Gabriele Dafft vom Bonner LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte. »Andererseits: Man will nicht nur Rohkost auf der Kirmes haben. Kirmes ist Auszeit und Gegenwelt zum Alltag«, sagt sie. »Selbst wer sich sonst gesund ernährt, gönnt sich dort einen fettigen Imbiss.« Ähnlich sei es bei der Deko. Privat möge man es vielleicht eher nicht so überladen, bunt und grell. »Aber auf der Kirmes erwartet man es.«

Der Schaustellerbund plädiert vor allem dafür, die Historie und das Herz eines Festes nicht aufzugeben. »Wenn eine kleine Kirmes mit Herzblut betrieben wird, wird es sie immer geben«, sagt Geschäftsführer Hakelberg. Und bestimmte Dinge müssten einfach immer da sein: Ohne Bratwurst etwa gehe es nicht. dpa/nd

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